Die russische Armee im Norden der Ukraine befindet sich offenbar auf dem Rückzug. Sie habe ein Fünftel ihrer Einheiten aus der Hauptstadtregion abgezogen, schätzt die Regierung in Kiew. Alles werde beim Rückzug vermint, «sogar die Leichen von getöteten Menschen», so Wolodimir Selenski (44) in der Nacht auf gestern. Der ukrainische Präsident rechnet nun mit heftigen Angriffen im Osten des Landes.
Moskau hatte zuletzt erklärt, die Kämpfe dort konzentrieren zu wollen. «Die grosse Schlacht wird der Donbass sein», sagt auch John Spencer, einer der renommiertesten Experten für die Kriegsführung in Städten, zu SonntagsBlick. Es sei das Einzige, wozu die russischen Truppen noch in der Lage seien.
Hoher Preis für Ostukraine?
Dass die Russen die Ostukraine tatsächlich erobern können, hält der Studienleiter am New Yorker Madison Policy Forum für möglich, allerdings zu einem unvorstellbar hohen Preis. John Spencer: «Zehntausend, zwanzigtausend zusätzliche russische Soldaten werden fallen, um den Osten einzunehmen.»
Denn dort stehe ein Drittel der ukrainischen Armee, «nicht die schlechtesten Einheiten, mit hoher Moral». Viel mehr als 100'000 Soldaten hätten die Russen derzeit gar nicht mehr übrig, so Spencer.
Kampf in dicht bewohntem Gebiet schwierig
Ein ähnliches Bild zeige sich in Mariupol. Zwar steckten die gut 3000 ukrainischen Verteidiger der belagerten Trümmerstadt seit vier Wochen in einer verzweifelten Lage: kaum Wasser, kaum Essen, ständiger Beschuss.
Doch der Kampf in dicht bewohntem Gebiet stelle den Angreifer vor ein Paradox: «Je stärker eine Stadt zerbombt wurde, desto schwieriger ist deren Einnahme.» Jede Ruine sei wie ein Bunker für die Verteidiger. «Einen Gegner in Trümmern anzugreifen, ist sehr verlustreich.»
Welche Möglichkeiten hat die russische Armee noch?
In Mariupol seien bereits 90 Prozent der Gebäude zerstört. Die vollständige Einnahme werde abermals Zehntausende Soldaten kosten. Trotzdem glaubt der ehemalige Major der U. S. Army, dass dies das Ziel der Russen sei.
Nur: Welche Möglichkeiten hat das russische Militär über die Hafenstadt hinaus?
Spencer glaubt, sie könnten sich stärker auf Cherson fokussieren. «Dort noch rücksichtsloser vorgehen, mehr Zivilisten töten, sich tiefer eingraben.»
Angriff auf Odessa eher unwahrscheinlich
Einen Angriff auf Odessa hält er für unwahrscheinlich. «Sie haben an so vielen Orten versagt, darum werden sie sich auf Luhansk und Donezk konzentrieren.»
Der Weg dorthin sei jedoch weit, an vielen Orten hätten sich ihre Streitkräfte festgefahren. «Sie sind nass, ihnen ist kalt, sie werden angegriffen, das Material ist beschädigt, und sie stecken im Dreck fest», sagt der US-Experte.
Truppenverschiebungen sind gefährlich für Russen
Truppenverschiebungen seien unter diesen Umständen sehr gefährlich: «Die Ukrainer greifen an, sobald sich der Feind zu bewegen versucht. Vielleicht sei dies der Grund für zunehmende Raketen- und Bombenangriffe der Russen auf Kiew: «Damit sie selber wegkommen.» Ein weiteres Problem der Angreifer sind die gewaltigen Distanzen. Die Ukraine zu durchqueren wäre viel zu unsicher. Sie müssten über Belarus im Norden ausweichen, was laut Spencer Wochen dauern könnte: «Die Truppe braucht eine Pause, mehr Munition, mehr Fahrzeuge, neue Offiziere und Soldaten.»
Gemäss einem Bericht der «New York Times» wollen die Ukrainer die taktische Lage nutzen und die Verteidiger der Donbass-Region mit Panzern aus sowjetischer Produktion ausstatten, die von den USA geliefert werden sollen.
Keine Grossoffensive der Ukrainer
Seit mehr als einer Woche erobern die Ukrainer Gebiete zurück. Laut britischen Geheimdienstinformationen ging die ukrainische Armee auch am Samstag in der Nähe von Kiew gegen russische Truppen vor. Spencer glaubt aber nicht an eine Grossoffensive der Ukrainer: «Sie machen weiter mit eher kleinen Attacken.»
Putin indessen könnte sein Heil in der Eskalation suchen: «Die Russen werden noch mehr Kriegsverbrechen verüben», meint der US-Experte. Es sei für die Kommandeure einfacher, einen Knopf zu drücken und Raketen auf ukrainische Städte abzufeuern, als weiter Soldaten in den Tod zu schicken.»
Ein Versuch des IKRK, nach Mariupol zu gelangen, ist am Freitag gescheitert. Dennoch gelang gleichentags über 3000 Zivilisten die Flucht. Am Samstag sollten Fluchtkorridore eingerichtet werden.