«Die Frauen leiden unter Sexueller Gewalt»
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Frauen im Krieg:«Sie leiden unter Sexueller Gewalt»

Frauen im Krieg
«Vergewaltigung ist die maximale Entehrung des Gegners»

Weil sie wichtigen Rückhalt im Widerstand gegen Russland geben, sind ukrainische Frauen grossen Gefahren ausgesetzt.
Publiziert: 17.04.2022 um 12:40 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2022 um 15:34 Uhr
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Wie viele Frauen bisher tatsächlich Opfer russischer Übergriffe geworden sind, ist unklar.
Foto: Getty Images
Janina Bauer

Eine Mutter und ihre Tochter, beide von russischen Soldaten vergewaltigt. Ein minderjähriges Mädchen, sexuell misshandelt. Und eine Frau, an der sich gleich eine ganze Gruppe russischer Kämpfer vergangen hat: nur vier Opfer sexueller Gewalt, die Kateryna Cherepakha (45), Präsidentin von La Strada Ukraine, zurzeit betreut.

Seit 1997 kämpft La Strada, ein Netzwerk von europäischen Hilfsorganisationen in 23 Ländern, gegen Gewalt und Menschenhandel, begangen an Frauen und Kindern. «Diese Probleme verschwinden in Zeiten des Krieges nicht», sagt die Aktivistin. Im Gegenteil: Dann nähmen sie stark zu. Und seien erheblich schwieriger zu bekämpfen.

SonntagsBlick erreicht Cherepakha telefonisch in der Ukraine. Ihre Heimatstadt Kiew hat sie verlassen, den aktuellen Aufenthaltsort möchte sie nicht verraten. «Frauen spielen eine wichtige Rolle im Widerstand gegen Russland», sagt sie. «Journalistinnen, Krankenschwestern, Frauen in der Verwaltung, Aktivistinnen, Sozialarbeiterinnen, Polizistinnen, Soldatinnen.»

Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe

Laut Sima Bahous (65), Chefin von UN Women, der Agentur der Vereinten Nationen für Gleichstellung und Ermächtigung von Frauen, sind 80 Prozent aller medizinischen und sozialen Hilfskräfte in der Ukraine weiblich. Ihre wichtige Rolle mache sie aber auch angreifbar.

Sexuelle Gewalt werde systematisch als Kriegswaffe eingesetzt. Sie schwäche den Gegner. Aus diesem Grund stünden auch Funktionsträgerinnen im Visier der russischen Armee, so Cherepakha. «Vergewaltigung und Misshandlung von Frauen ist die maximale Entehrung des Gegners», erklärt Carmen Scheide (57), Historikerin und Osteuropaexpertin der Universität Bern. Indem man sich an Frauen vergeht, beweise man, jeden Respekt voreinander verloren zu haben.

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Wie viele Frauen bisher tatsächlich Opfer russischer Übergriffe geworden sind, ist unklar, sagt Cherepakha. La Strada Ukraine betreut zurzeit zwölf Betroffene, die sich über die telefonische Notfall-Hotline der Organisation gemeldet haben. «Von den Überlebenden sexueller Gewalt befinden sich viele in besetzten Gebieten. Dort sitzen sie ohne Zugang zu Telefonen fest – und selbst wenn sie um Hilfe bitten können, kann man sie nur schwer bis gar nicht mit der notwendigen Unterstützung erreichen.»

Hohe Dunkelziffer

Obwohl sie glaubt, dass in den kommenden Wochen und Monaten immer mehr Fälle ans Licht kommen werden, rechnet die Aktivistin mit einer hohen Dunkelziffer. Selbst in friedlichen Zeiten werde sexuelle Gewalt selten zur Anzeige gebracht. Das Thema sei in der Gesellschaft stigmatisiert und tabuisiert. Zudem schämten sich Betroffene oft. Das hindere sie am Sprechen.

In der Kriegssituation kämen starke körperliche und emotionale Traumata hinzu, so Cherepakha. «Die Überlebenden müssen sich erst sicher fühlen und ihre traumatisierenden Erlebnisse verarbeiten. Dann erst berichten sie, was ihnen geschehen ist. Oder eben nie.»

La Strada stelle psychologische Hilfe bereit, nehme die Strafverfolgung gegen Täter auf, sensibilisiere die Gesellschaft, entstigmatisiere sexuelle Gewalt und hebe die Frauen aus ihrer Opferrolle heraus – all das seien wichtige Massnahmen. Doch die Ressourcen der Ukraine sind durch den Krieg erschöpft, die Menschen geschwächt, viele Spezialisten geflüchtet. Daher appelliert die Aktivistin ans Ausland, auch an die Schweiz: «Schaut genau hin, wenn Frauen und Mädchen bei euch ankommen. Informiert sie über Hilfsangebote. Unterstützt die Organisationen, die den Frauen Hilfe anbieten.»

Chaos an den Grenzen

Die Brutalität der russischen Armee sei nicht die einzige Gefahr für ukrainische Frauen. «In Kriegssituationen florieren kriminelle Kräfte oft unkontrollierbar», betont Osteuropaexpertin Scheide. «Das gibt Raum für Menschen- respektive Mädchenhandel.»

Die erste Flüchtlingswelle aus der Ukraine sei noch etwas weniger betroffen gewesen, glaubt Doro Winkler (58) von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration in Zürich. Die Routen seien zu Beginn des Kriegs sicherer gewesen und die Verfassung der Menschen besser. Heute sei das anders: «Nach wochenlangem Kriegsgeschehen, traumatischen Erlebnissen, Verlusterfahrungen, Hunger und ohne finanzielle Ressourcen sind die Menschen erschöpft. Das macht sie vulnerabel für Ausbeutung.» Zudem herrsche an den Grenzen zu Moldawien und Polen wegen hohen Menschenaufkommens vielfach Chaos.

Erste Hinweise auf Menschenhandel gebe es bereits. Winkler: «Wir hören von verschiedenen Gruppen, getarnt als freiwillige Helfer, die an der polnischen Grenze besonders tolle Arbeitsangebote in der Schweiz und in der Türkei versprechen und Transportmöglichkeiten anbieten.» Zwar werden die Flüchtenden an der Grenze mit Flyern vor der potenziellen Gefahr gewarnt, doch das reicht nicht. Winkler fordert: Direkte Transporte von den Grenzzonen in die jeweiligen Länder, organisiert von der jeweiligen Regierung. Die Schweiz eingeschlossen.

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