Vor einer Woche gingen die ersten Schreckensbilder aus der Kleinstadt Butscha um die Welt: Leichen, die auf der Strasse liegen, in Hinterhöfen, in mutmasslichen Massengräbern. Zivilisten, getötet von russischen Soldaten. 320 sind es allein in Butscha, so Bürgermeister Anatoli Fedoruk (49). Doch Butscha ist kein Einzelfall, immer weitere Berichte von mutmasslichen Kriegsverbrechen werden bekannt.
Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow (55) fordert Vergeltung: «Unsere Aufklärung identifiziert systematisch alle Eindringlinge und Mörder. Alle!» Die ukrainische Aktivistengruppe Inform Napalm veröffentlichte am Dienstag auf Twitter Bilder und Namen von mutmasslichen Verantwortlichen des Butscha-Massakers: Oberstleutnant Asatbek O.* und seine Einheit 51460. Die Angaben liessen sich bislang nicht unabhängig überprüfen. Der Bedarf nach Aufklärung ist gross. Doch: Ist es überhaupt möglich, die Verantwortlichen zu finden und – was noch viel schwieriger ist – sie zur Rechenschaft zu ziehen?
Kriegsverbrechen verjähren nicht
«Ich glaube nicht, dass in absehbarer Zeit Prozesse stattfinden werden. Es ist aber elementar, dass man jetzt die Voraussetzungen dafür schafft», sagt Völkerrechtsexperte Oliver Diggelmann von der Universität Zürich. Alle Beweise für Kriegsverbrechen müssten akribisch gesammelt werden. Denn: Kriegsverbrechen verjähren laut einer Uno-Resolution aus dem Jahr 1968 nicht. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International sind bereits an den Tatorten, um die Verbrechen zu dokumentieren, auch ein Ermittlungsteam des Internationalen Strafgerichtshofs hat seine Arbeit aufgenommen.
Kriegsverbrechen sind in der Regel kollektive Taten, doch nur Einzelne können dafür strafrechtlich belangt werden. Möglicherweise sind Tausende Soldaten involviert – einem jeden von ihnen müssten konkrete Beweise zugeordnet werden, um eine Strafe zu verhängen, erklärt Diggelmann. Ein komplizierter Prozess, der oftmals ohne Erfolg bleibt.
«Abschreckung durch Brutalität»
Nachzuweisen, dass Befehlshaber für Kriegsverbrechen verantwortlich sind, ist nach Auffassung des Völkerrechtlers sogar noch schwieriger. Zu dünn ist oftmals die Beweislage. «Sie werden kaum einen Befehlshaber finden, der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nachweisbar anordnet. Das geschieht eher implizit und in codierter Sprache», so Diggelmann. Im Fall der russischen Regierung sieht er allenfalls eine Chance, wenn die exzessive Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung ein Muster offenbart, also implizit als Kriegstaktik erscheint.
Davon geht auch der ETH-Sicherheitsexperte Niklas Masuhr aus. Er hält das Butscha-Massaker für einen angeordneten und systematischen Vorgang: «Abschreckung durch Brutalität gehört ganz klar zum Werkzeugkasten des russischen Militärs. Das heisst nicht notwendigerweise, dass der Befehl direkt vom Kreml kam, aber wohl irgendwo entlang der militärischen Befehlskette.»
Doch wer ist in solchen Fällen für die Strafverfolgung verantwortlich? In der Geschichte gingen Länder gegen ihr eigenes Unrechtsregime allenfalls nach einem Regierungswechsel vor. In Russland sei dies derzeit nicht zu erwarten, so Diggelmann. «Das hängt auch vom Ausgang des Krieges ab.» Nach den Grundsätzen des Völkerrechts kann jedes Land Kriegsverbrecher strafrechtlich verurteilen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist ebenfalls zur Anklage befugt. Da er jedoch keine eigene Polizei hat, ist er auf Hilfe der Mitgliedstaaten angewiesen. Westeuropa zeigt sich immerhin entschlossen: Auf Drängen von 39 Mitgliedstaaten, inklusive der Schweiz, hat der IStGH bereits Untersuchungen zum Krieg in der Ukraine eingeleitet.
Schweiz kann bei Beweissicherung helfen
Die Schweiz kann mehr tun, als sie derzeit tut, erklärt der Zürcher Völkerrechtler Diggelmann. «Indem wir als loyaler Partner die Staaten unterstützen, die mit mehr Ressourcen die Strafverfolgung aufnehmen.» Und was heisst das konkret? Die Schweiz kann mithelfen, Beweise zu sichern, und sie kann Experten zur Verfügung stellen. Erste Schritte sind bereits eingeleitet, wie Justizministerin Karin Keller-Sutter gegenüber der «NZZ» sagt: «Ich bin froh, dass Flüchtlinge in der Schweiz bei der Registrierung ein Formular erhalten, mit dem sie sich als Zeugen von Kriegsverbrechen melden können.»
Neben der Zivilbevölkerung sind nach dem humanitären Völkerrecht auch Verwundete und Kriegsgefangene schutzbedürftig. In einem Video, das von der «New York Times» als echt erklärt wurde, ist zu sehen, wie ukrainische Kämpfer verwundete russische Soldaten brutal hinrichten. Auch das ist ein Kriegsverbrechen, so Diggelmann, auch das müsse verfolgt werden. «Geht das ukrainische Militär den Kriegsverbrechern in den eigenen Reihen nicht nach, so laufen die Vorgesetzten und die politische Führung letztlich Gefahr, selbst verurteilt zu werden. Weil sie Kriegsverbrechen dulden.»
*Name bekannt