Frauen auf der Flucht
An der Grenze warten Menschenhändler

Auf der Flucht aus der Ukraine sind Frauen mit ihren Kindern meist auf sich allein gestellt. Ihre Not wird von Menschenhändlern ausgenutzt, vielen droht sexuelle Ausbeutung. Im Netz hat sie bereits begonnen.
Publiziert: 11.03.2022 um 09:27 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2022 um 10:09 Uhr
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Bislang sind wegen der russischen Invasion 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht, darunter sind besonders viele Frauen mit ihren Kindern.
Foto: keystone-sda.ch
Valentina San Martin und Katja Richard

Bislang sind wegen der russischen Invasion 1,5 Millionen Menschen aus der Ukraine auf der Flucht, darunter sind besonders viele Frauen mit ihren Kindern. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen, da sie das Land verteidigen müssen. Viele Kinder werden ihre Väter nie mehr sehen. Die Frauen sind oft auf sich allein gestellt, das macht sie besonders verletzlich, ihnen droht sexuelle Ausbeutung.

Denn an der Grenze warten nicht nur wohlmeinende «Helfer» auf sie: «Wo Flüchtlinge sind, da sind auch Menschenhändler und Schlepper, sie nutzen die Situation der Frauen aus, die total erschöpft und traumatisiert sind», sagt Irene Hirzel vom Beratungs- und Schulungszentrum gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung ACT212. Es sei traurig, aber leider nicht neu: «Menschenhandel ist ein grosses Geschäft, das von Kriegen befeuert wird.»

Schlepper nutzen Situation der Frauen aus

Auch an der polnisch-ukrainischen Grenze wird die Situation mit Sorge beobachtet. Der polnische Kriminologie-Professor Zbigniew Lasocik (64) ist Experte für Menschenhandel, zusammen mit sechs Freiwilligen verteilt er Flyer, um die Ukrainerinnen zu warnen. Im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» sagt er: «Je chaotischer die Situation, je verletzlicher die Frauen, desto besser für die Täter. Unser Ziel ist es, die in Polen ankommenden Ukrainerinnen dafür zu sensibilisieren, welche Gefahren auf der Flucht drohen.» Bisher haben gegen eine Million Flüchtlinge die Grenze nach Polen überquert. In dieser Masse könne man laut dem Menschenrechtsexperten leicht in Schwierigkeiten geraten, insbesondere Frauen: «Es ist nicht möglich, dass wir sie alle schützen. Sie müssen dies bis zu einem gewissen Grad selber tun.»

Zuhälter an deutschen Bahnhöfen

Aber nicht nur an der polnischen Grenze zur Ukraine, sondern auch an deutschen Bahnhöfen stehen Schlepper und Zuhälter parat. Die Zeitschrift «Emma» berichtet von «dubiosen Männern, die durch die Reihen der Frauen gehen, die auf Züge warten, und ihnen Schlafplatzangebote machen.»

Zuhälter wüssten ganz genau, wie sie die Notsituation der Frauen ausnützen können. «Wenn kein Geld mehr da ist, kommt die Verzweiflung», sagt Hirzel. Auf diesen Moment würden die Schlepper warten und genau dann andere «Verdienstmöglichkeiten» vorschlagen, die in einer Ausbeutungssituation enden können. Auch 2014, nach der russischen Annexion der Krim, gerieten zahlreiche Ukrainerinnen in die Fänge von Zuhältern.

Schmutzige Fantasien im Internet

Offensichtlich besteht dafür eine Nachfrage. Als ob der Krieg nicht schon schlimm genug wäre, sind die Ukrainerinnen nun auch noch Gegenstand schmutziger Fantasien im Internet. Seit dem Tag der Invasion gehört der Begriff «Ukrainian girls» zu den meistgesuchten Begriffen auf verschiedenen Plattformen für Pornofilme wie dem amerikanischen Riesen Pornhub. Zugleich verzeichnet Google Trend eine Vielzahl von Suchbegriffen wie: «Kriegsvergewaltigungen» oder «Flüchtlingsporno».

Aber warum wird die Notlage der Ukrainerinnen derart missbraucht? Die amerikanische Journalistin Susan Brownmiller argumentierte bereits in ihrem 1976 erschienenen Buch «Vergewaltigung», dass Pornos stark mit sexueller Gewalt verbunden sind und Frauen in einem Zustand ständiger Unterwerfung halten: «Frauenverachtung ist das Herzstück der zeitgenössischen Pornografie.» Laut der Autorin ist die Mainstream-Pornografie ein Mittel, um sexistische und frauenfeindliche Gewalt zu verharmlosen oder sogar zu rechtfertigen. Eine Feststellung, die immer noch aktuell zu sein scheint.

Für Irene Hirzel ist die Entwicklung auf den Pornoseiten «schockierend», aber nicht überraschend: «Sie zeichnet ein Bild von Männern, die vulnerable Situationen zwecks ihrer eigenen Befriedigung ausnutzen. Wobei das natürlich nicht auf alle Männer zutrifft.»

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