Mehr als zwei Wochen nach ihrem massiven Grossangriff auf Israel hat die radikalislamische Hamas zwei weitere Geiseln freigelassen. Laut der Hamas erfolgte der Schritt nach einer Vermittlung durch Katar und Ägypten. Israel bestätigte die Freilassung und dankte Ägypten und dem Roten Kreuz (IKRK), welches die Geiseln am Montagabend in Empfang nahm.
Nach Angaben des Büros von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74) handelt es sich bei den freigelassenen Geiseln um Yocheved Lifshitz (85) und Nurit Cooper (79). Die beiden Israelinnen stammen aus dem Kibbuz Nir Os und waren zusammen mit ihren über 80-jährigen Ehemännern während des Grossangriffs der Hamas am 7. Oktober als Geiseln genommen worden. Die beiden Ehemänner werden Netanyahus Büro zufolge weiterhin mit mehr als 200 weiteren Geiseln im Gazastreifen festgehalten.
Grosses Herz für Menschen in Gaza
Lifshitz' Enkel Daniel Lifshitz zufolge hat die 85-Jährige ein grosses Herz – auch für die Palästinenser. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters erklärt er, seine Grosseltern hätten sich lange Zeit für Kranke im Gazastreifen engagiert. «Sie sind Menschenrechts- und Friedensaktivisten, schon ihr ganzes Leben lang», sagt Daniel Lifshitz. «Für mehr als ein Jahrzehnt brachten sie (...) kranke Palästinenser aus dem Gazastreifen.» Jede Woche hätten sie Menschen von der Erez-Grenze zu den Spitälern in Israel gebracht, um sie wegen Krebs und anderem behandeln zu lassen.
Die Al-Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Hamas, veröffentlichten ein Video der Geiselübergabe. Darauf sind Lifshitz und Cooper zusammen mit einem bewaffneten Kämpfer zu sehen. Die beiden Frauen werden von ihm zu einem weissen IKRK-Wagen geführt. Bevor Lifshitz ins Auto einsteigt, schüttelt sie dem Kämpfer die Hand und sagt «Salam», was auf Arabisch «Frieden» bedeutet.
Die beiden Frauen wurden später mit einem Militärhelikopter zur Sourasky-Klinik in Tel Aviv gebracht – eine von ihnen auf einer Trage, die andere im Rollstuhl. Nach Angaben der Regierung wurden sie dort von ihren Familien in Empfang genommen.
«Ich weiss nicht, wohin ich gebracht wurde»
Lifshitz erinnert sich gegenüber der israelischen Nachrichtenwebsite Ynet an die Entführung: Sie habe auf einen Töff steigen müssen, «ein Terrorist hat mich von vorne festgehalten, der andere von hinten», schildert Lifshitz die Geiselnahme. Sie hätten die Grenze zum Gazastreifen passiert. Zunächst sei sie in der Stadt Abasan in der Nähe von Beeri festgehalten worden. «Dann weiss ich nicht, wohin ich gebracht wurde.»
Ihr Sohn, Arnon Lifshitz, sagt, die 85-Jährige sei in einem Raum mit etwa 60 anderen Geiseln festgehalten worden. «Sie war zusammen mit 55 bis 60 weiteren Personen am selben Ort.» Lifshitz sei von ihrem Mann getrennt worden. «Wir hoffen, dass auch er so bald wie möglich gesund zurückkehren wird.»
Uhr und Schmuck abgenommen
Einer der Terroristen habe sie während der Fahrt in den Gazastreifen mehrfach auf die Rippen geschlagen, erzählt Lifshitz bei einer Pressekonferenz vom Dienstag. Die Kämpfer hätten ihr die Uhr und Schmuck abgenommen. «Ich ging durch die Hölle.» In Gefangenschaft sei sie allerdings gut versorgt worden. «Sie haben uns gut behandelt.» Alle zwei, drei Tage habe ein Arzt nach den Geiseln geschaut. Ein verwunderter Mann habe Antibiotika und Medikamente bekommen. Die Entführten hätten das Essen mit den Mitgliedern der Hamas geteilt. Die Hamas habe sich sehr darum bemüht, den Ort sauber zu halten. Die 85-Jährige beschreibt auch, dass sie in Tunneln unter dem Gazastreifen gelaufen sei. Dieses Tunnelsystem sei «wie ein Spinnennetz».
Der Sprecher des bewaffneten Arms der Hamas, Abu Obeida, erklärte, die beiden Frauen seien «aus zwingenden humanitären Gründen» freigelassen worden. Das IKRK erklärte seinerseits im Onlinedienst X (ehemals Twitter), bei der Freilassung der beiden Geiseln geholfen zu haben, indem es sie aus Gaza herausgebracht habe. Israelischen Medien zufolge wurden sie über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten gebracht. Bilder ägyptischer Fernsehsender zeigen, wie die Frauen nach ihrer Ankunft in Ägypten in Krankenwagen gebracht werden.
Am Freitag liess die Hamas erstmals zwei Geiseln frei, zwei US-Bürgerinnen – Judith Raanan (59) und ihre Tochter Natalie Raanan (17). Netanyahus Büro erklärt, die israelische Regierung, die Armee und alle Sicherheitsdienste würden weiterhin alles tun, «um alle Geiseln zu finden und alle entführten Menschen nach Hause zu bringen».
Mehr 200 entführt, 1400 getötet
Bei ihrem Angriff auf israelisches Staatsgebiet hatten die schwer bewaffneten Islamisten insgesamt mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt – darunter Babys, Kinder, Schwangere, Soldaten und Ausländer. Bei dem Überfall der Hamas wurden nach israelischen Regierungsangaben etwa 1400 Menschen getötet.
Als Reaktion auf den Grossangriff riegelte Israel den Gazastreifen ab und startete massive Luftangriffe. Seit Beginn der israelischen Angriffe wurden nach Hamas-Angaben, die von AFP nicht unabhängig überprüft werden konnten, im Gazastreifen mehr als 5000 Menschen getötet.
USA: Feuerpause erst nach Geiselbefreiung
Die USA wiesen unterdessen Forderungen nach einer humanitären Waffenruhe im Gazastreifen zurück. US-Präsident Joe Biden forderte die Freilassung aller Geiseln, bevor Gespräche über eine Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas geführt werden könnten. «Die Geiseln müssen freigelassen werden, erst dann können wir reden», sagte Biden am Montagabend im Weissen Haus.
Eine Feuerpause würde der Hamas «die Fähigkeit geben, sich auszuruhen, nachzurüsten und neue Terrorangriffe gegen Israel vorzubereiten», sagte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Matthew Miller.
UN-Generalsekretär António Guterres hatte am Wochenende am Rande des Nahost-Gipfels in Kairo zu einem vorläufigen Ende der Kämpfe zwischen Israel und der Hamas aufgerufen. Die Europäische Union ist in der Frage uneins. (noo/AFP)