Zwölf Jahre Krieg. Und jetzt das Erdbeben. In Syrien herrschen teilweise verheerende Zustände. Das gilt insbesondere für die Region im Nordwesten des Landes. Das Gebiet ist seit Jahren umkämpft. Rebellengruppen – unter ihnen auch Terroristen – bekämpfen Regierungstruppen und tragen Rivalitäten untereinander aus. Hinzu kommen die türkischen Militäroperationen im Grenzgebiet. Die Hilfe nach dem Erdbeben erreicht die Bedürftigen in Syrien nur schleppend. Die Rettungs- und Bergungsarbeiten kommen kaum voran.
Eine der im syrischen Erdbebengebiet tätigen Organisationen ist Ärzte ohne Grenzen. Marcus Bachmann (56), humanitärer Berater von Ärzte ohne Grenzen, erklärt im «Ö1 Morgenjournal»: «Die Menschen, die jetzt von diesem Erdbeben betroffen sind, sind Menschen, die schon seit Jahren unter sehr prekären Bürgerkriegsbedingungen leben.» Dem stehe ein Gesundheitssystem gegenüber, das schon unter normalen Umständen nicht in der Lage gewesen sei, die Menschen zu versorgen.
Nur fünf Prozent des Gebiets wird abgedeckt
Die Berichte der Mitarbeiter vor Ort sind schrecklich: «Der Zustrom an Verletzten und Schwerverletzten reisst nicht ab», sagt Bachmann. Das habe zum einen damit zu tun, dass die Menschen aus weit entlegenen Dörfern in die Spitäler kämen. Zum andern ist es laut Bachmann ein Hinweis darauf, dass es in den Erdbebengebieten kaum schweres Bergungsgerät gibt. «Die Menschen müssen händisch mit einfachen Werkzeugen geborgen werden.»
Wie das Uno-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Lagebericht vom Mittwoch schreibt, werden nach Zivilschutzangaben «nur fünf Prozent der gemeldeten Standorte durch Such- und Rettungsmassnahmen abgedeckt». Ein Mangel an schweren Maschinen zur Beseitigung von Trümmern würde die Bemühungen erschweren, heisst es.
Diskussion um Aufhebung der Sanktionen
Dass die dringend benötigte Hilfe in Syrien nicht gleich schnell ankommt wie in der Türkei, hat politische und logistische Gründe. Die vom Erdbeben betroffenen Gebiete in Syrien werden teils von verschiedenen Rebellenfraktionen, teils von der Türkei, teils von der Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad (57) kontrolliert. Die syrische Regierung will, dass sämtliche Hilfeleistungen zentral über sie koordiniert werden. Das Aussenministerium in Damaskus verlangt zu dem eine Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen das Land, wie aus einer Mitteilung hervorgeht.
Auch der Syrisch-Arabische Rote Halbmond und mehrere Geistliche in der Region fordern eine Aufhebung der Sanktionen. Diese dürften sich nicht «in ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwandeln», erklärt der Kirchenrat MECC mit Sitz in Beirut – dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss christlicher Kirchen im Nahen Osten und Nordafrika. Der Patriarch der syrisch-orthodoxen Kirche, Ignatius Ephräm (57), schreibt bei Twitter: «Wann, wenn nicht jetzt?»
Diese Länder unterstützen die Regierung
Bei den von den USA und der EU auferlegten Sanktionen gibt es Ausnahmen für humanitäre Hilfe. Hilfsorganisationen stehen trotzdem immer wieder vor Problemen. Sie riskieren Strafen bei der Zusammenarbeit mit Unternehmen, welche die Assad-Regierung unterstützen. Viele Banken, Transportunternehmen, Versicherungen und andere Dienstleister wollen deshalb nicht in Syrien arbeiten oder mit syrischen Unternehmen in Zusammenhang gebracht werden.
Obwohl westliche Hilfe an die syrische Regierung ausbleibt, haben einige Länder wie China, Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, Iran, Oman und Indien Hilfeleistungen für Damaskus in Aussicht gestellt oder bereits geliefert. Sogar Israel, das seit Jahren mit Syrien verfeindet ist, bot seine Hilfe an.
Die Rebellengebiete werden von der Türkei aus versorgt. Der einzige noch offene Zugang, der Grenzübergang Bab al-Hawa, war wegen Erdbebenschäden vorübergehend nicht nutzbar. Inzwischen konnten die Schäden repariert werden. Am Donnerstag sind nun die ersten sechs Lastwagen mit Uno-Hilfsgütern seit dem Erdbeben in Nordsyrien eingetroffen.