Glühende Rede zum Flaggen-Tag
Plant Putin neue Gross-Offensive?

Russland feierte am Montag seinen Flaggen-Tag. Putin liess zu Ehren eine Parade abhalten und lobte die russische Armee. Gleichzeitig gerät der Krieg in der Ukraine in Stocken. Der Kreml-Chef könnte deswegen nun einen Gross-Angriff planen.
Publiziert: 23.08.2022 um 17:08 Uhr
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Aktualisiert: 24.08.2022 um 10:53 Uhr
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Am Mittwoch führt Putin seit sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine.
Foto: IMAGO/SNA
Johannes Hillig

«Russland ist eine starke, unabhängige Weltmacht. Auf der internationalen Bühne sind wir verpflichtet, nur eine Politik zu verfolgen, die den vitalen Interessen unseres Vaterlandes entspricht», sagte Kreml-Chef Wladimir Putin (69) voller Pathos in seiner Rede am Montag zur Feier des Flaggen-Tags, wie die «Moscow Times» berichtet. Der Tag der Flagge wird seit seiner Einführung durch den damaligen Präsidenten Boris Jelzin (1931–2007) im Jahr 1994 jedes Jahr am 22. August gefeiert.

Ohne direkt auf Russlands Krieg in der Ukraine einzugehen, erklärte Putin, die Nationalflagge werde die russischen Bürger zu «militärischem Ruhm» inspirieren. Die weiss-blau-rote Flagge Russlands «symbolisiert unseren Glauben an unsere traditionellen Werte, die wir niemals aufgeben werden.»

Möglicherweise plant Putin einen grossen Angriff. Der Kreml-Chef hatte zuletzt gesagt, dass Russland noch nicht einmal richtig losgelegt habe. Die grosse Mehrheit der Russen ist überzeugt, dass er alles tut, um eine Niederlage zu verhindern. Durch eine Generalmobilmachung könnte der Kreml-Chef aus der «Militäroperation» einen auch für Russland richtigen Krieg machen, den er dann auch so nennen müsste. Die Sorge, er könne eine Eskalation mit den Nato-Staaten im Baltikum suchen, hat sich bisher aber nicht bestätigt.

Blutige Patt-Situation zwischen Russland und Ukraine

Am Mittwoch führt Russland seit sechs Monaten Krieg gegen die Ukraine. Aus dem geplanten Blitzkrieg samt Eroberung wurde ein erbitterter Stellungskrieg. So kann sich Präsident Putin den Kriegsverlauf nicht gedacht haben, als seine Panzertruppen am 24. Februar die Grenze überschritten. Binnen Stunden änderte sich das sicherheitspolitische Gefüge in Europa: Die Nato aktivierte noch am selben Tag Verteidigungspläne für Osteuropa, EU-Sanktionspakete wurden beschlossen und dann auch eine «Zeitenwende» mit 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr.

Regierungen und Militärexperten, die der Ukraine zu Beginn eine Niederlage binnen weniger Wochen vorhersagten, lagen gewaltig daneben. Inzwischen gleicht die Situation einem blutigen Patt. Daraus könnte – so sagen es Diplomaten – ein Krieg werden, der noch Jahre dauert, mit weiteren schweren Grausamkeiten und schlimmen Verbrechen an der Zivilbevölkerung.

Die russischen Einheiten kommen kaum voran. Sie verhinderten bei Vorstössen in ukrainisch kontrollierte Gebiete nicht, dass sich die Verteidiger neu gruppieren, wie Militärexperten des Institute for the Study of the War aus den USA bilanzieren. Und: «Die russischen Kräfte werden wahrscheinlich weiterhin nicht genug Ressourcen, für einzelne Offensiven bereitstellen können, wie sie für bedeutsame Gebietsgewinne nötig sind, aus dem einen operativer Erfolg wird.»

«Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt»

Die vom Westen mit Milliarden und schweren Waffen unterstützte Führung in Kiew stellt der Bevölkerung eine Vertreibung der russischen Angreifer in Aussicht. «Wir haben die russische Armee aus den nördlichen Gebieten verjagt. Wir haben die Besatzer von unserer Schlangeninsel vertrieben. Sie spüren bereits, dass es Zeit ist, aus Cherson und überhaupt aus dem Süden unseres Staates zu verschwinden», versprach Präsident Wolodimir Selenski (44) Mitte August. «Es wird die Zeit kommen, dass sie aus dem Gebiet Charkiw verschwinden, aus dem Donbass, von der Krim ...»

Trotzdem musste auch Selenski zugeben, dass inzwischen rund 20 Prozent des Staatsgebiets – die Krim eingeschlossen – nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehen. Aus dem Kreml kommen unverändert Behauptungen, alles laufe nach Plan. Die Ziele der «militärischen Spezialoperation», wie der Krieg in Russland offiziell nur heisst, würden in vollem Umfang erreicht. «Ohne Zweifel.»

Was genau die Ziele sein sollen, ist aber auch vielen Russen nicht mehr klar. Die Sanktionen setzen ihrer Wirtschaft schwer zu. Die Nato, die zurückgedrängt werden sollte, ist stattdessen auf dem Vormarsch: Finnland und Schweden kommen nun auch in die Militärallianz.

Etwas über 60 Prozent vom Donbass erobert

Die grosse Mehrheit der Russen blendet den Krieg aus. Putin spricht als Oberbefehlshaber immer wieder vom Ziel der «Befreiung» des Donbass. Die Bilder von Tod und Zerstörung, die auch viele Russen trotz gesperrter Internetseiten und Zensur in den Staatsmedien kennen, lassen aber am Sinn der Invasion zweifeln.

Zum Donbass gehören das Gebiet Luhansk, das die Ukraine nicht mehr kontrolliert, und die Region Donezk, wo Moskau seit Wochen ohne merklichen Fortschritt nach Einschätzung unabhängiger russischer Experten bisher etwas über 60 Prozent des Gebiets erobert hat.

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Was aber mit den eroberten Teilen der Gebiete Cherson, Charkiw und Saporischschja geschehen soll, dazu gibt es keine klaren Ansagen des Kremls. Diskutiert werden immer wieder «Volksabstimmungen» über einen Beitritt zu Russland, ohne dass es ein Datum gibt.

Putin fehlt es an Nachschub

Die ganze «Operation» liegt nach einer Analyse des Experten Andrej Perzew deutlich hinter Zeitplan. Moskau schätze die Lage immer wieder falsch ein. «Im Kreml hoffen sie, dass die russischen Streitkräfte bis Dezember/Januar das Donezker Gebiet doch noch komplett einnehmen, ohne dabei die Kontrolle über die schon okkupierten Territorien zu verlieren», schrieb Perzew für das Internetportal Meduza.

Russische Abgeordnete und Militärs betonen zwar, dass der gesamte Süden abgetrennt werden solle – also auch die Hafenstadt Odessa. Der Kreml bestätigt das aber nicht. Durch einen russischen Korridor bis zur Ex-Sowjetrepublik Moldau verlöre die Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer verlieren und würde zum Binnenland.

Aber selbst vielen Russen ist klar, dass nichts läuft, wie es sollte. Zwar plakatieren Städte und Regionen Aufrufe, sich sogenannten Freiwilligenbataillonen anzuschliessen. Aber der personelle Nachschub für die Front kommt nicht zusammen, wie selbst russische Zeitungen offen schreiben. Zudem wehren sich Angehörige der Sicherheitsorgane bisweilen auch vor Gericht dagegen, in den Krieg zu ziehen.

«Die Kampfhandlungen sind in der Sackgasse»

Dabei locken für russische Verhältnisse vergleichsweise hohe Monatseinkommen von 100'000 Rubel (rund 1630 Franken) und mehr. Auch in Gefängnissen wird rekrutiert – mit dem Versprechen eines späteren Lebens in Freiheit.

Immer wieder gibt es Berichte, wonach etwa der von den USA zur Fahndung ausgeschriebene und auch von der EU mit Sanktionen belegte Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin (61) in den Straflagern auf Suche nach Kämpfern geht. Der Mann mit gutem Draht zu Putin gilt als Finanzier der international tätigen Söldnergruppe «Wagner», die für viele Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird.

Nach einem halben Jahr sieht auch das russische Internetportal Meduza in einer grossen Analyse eine Pattsituation. «Die Kampfhandlungen sind in der Sackgasse, aber ein Einfrieren des Konflikts ist weder für Moskau noch für Kiew von Vorteil.» Niemand wolle nachgeben und Verlierer sein. «Ihre politischen Ziele bringen beide Seiten dazu, ihren Einsatz zu erhöhen für einen noch grösser angelegten Krieg.»

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