Als Fallschirmjäger gehört er zu Russlands Elitetruppen, ist monatelang in der Ukraine im Einsatz. Dann desertiert Pavel Filatjew. Am 1. August veröffentlicht der 33-Jährige auf dem sozialen Portal VKontakte sein Tagebuch von der Front. Filatjew packt aus – und liefert erschütternde Innenansichten direkt aus dem Krieg. Er liefert Details von der russischen Seite, die man bislang noch nie hörte.
Filatjew schreibt über den Feldzug von Kriegspräsident Wladimir Putin (69), über die Verzweiflung und zerrüttete Moral an der Front. Er habe keine Wahl, schreibt der Deserteur, er müsse von «Krieg» sprechen – obwohl der Gebrauch des Wortes in Russland verboten sei.
«Mein ganzes Leben lang sage ich nur die Wahrheit, auch wenn es mir selbst weh tut», beginnt der Russe seine Aufzeichnungen. Er könne nicht länger schweigen und wollte nicht länger kämpfen. Sein Gewissen plagt ihn. Er müsse seine Erfahrungen an der Front öffentlich machen. Von einem Krieg erzählen, der in seinen Augen sinnlos ist. «Ich sehe keine Gerechtigkeit in diesem Krieg», schreibt er. «Ich kann einfach nicht länger schweigen.» Menschen würden in diesem Krieg für Ziele sterben, die nie definiert worden seien.
Alltag in absurdem Krieg
Filatjews stammt aus dem südrussischen Wolgodonsk und war im 56. Luftangriffsregiment der Garde zuerst auf der Krim stationiert. Später wurde er auf das nahe Festland verlegt. Filatjew weiss, dass ihn sein Tagebuch in eine gefährliche Lage bringt. Sein Auspacken komme ihn wohl teuer zu stehen, schreibt er. Deshalb gibt er auch seinen derzeitigen Aufenthaltsort nicht bekannt.
Erst wollte sich Filatjew nach der Veröffentlichung seines 141-seitigen Tagebuchs der Polizei stellen. Gesinnungsgenossen hielten ihn davon ab und halfen ihm und seiner Mutter, aus dem Land zu fliehen.
Inzwischen war Filatjew auch im oppositionellen russischen TV-Sender «Doschd» zu sehen. Unabhängige russische Medien drucken Auszüge aus seinem Tagebuch. Noch nie zuvor beschrieb ein russischer Soldat aus nächster Nähe den Alltag und die Absurdität des Krieges.
Wut und Verzweiflung
Eine Verletzung am Auge hatte es Filatjew ermöglicht, den Schützengraben an der Front vor Cherson nach fast zwei Monaten im Kampfgeschehen zu verlassen. Wie der «Guardian» berichtet, schrieb er 45 Tage an seinem brisanten Augenzeugenbericht. Im Detail führt der Soldat aus, wie schlecht ausgerüstet und miserabel die Logistik der russischen Armee in der Ukraine ist. Niemand wisse, warum dieser Krieg überhaupt geführt werde.
Filatjew schreibt von «vielen Toten, deren Angehörige keine Entschädigung erhalten haben». Er schreibt von der Verzweiflung in Schützengräben und der Wut in Lazaretten. «Die meisten Soldaten sind unzufrieden mit dem, was passiert. Sie sind unzufrieden mit der Regierung und ihren Kommandanten. Sie sind unzufrieden mit Putin und seiner Politik. Sie sind unzufrieden mit dem Verteidigungsminister, der nie in der Armee gedient hat.»
Die Ausrüstung der russischen Armee sei veraltet, Fahrzeuge seien marode. Es gebe kaum Schutz vor ukrainischen Gegenangriffen. Selbst sein eigenes Gewehr sei verrostet gewesen. Viele seiner Kameraden hätten ukrainische Uniformen getragen. Die seien «von besserer Qualität und bequemer».
«Menschen zu Wilden gemacht»
An der Front hätten sich einige absichtlich Schussverletzungen zugefügt, um von der Front abgezogen zu werden und eine Entschädigung von drei Millionen Rubel zu kassieren, umgerechnet rund 48'000 Franken. Viele Soldaten hätten Hunger gehabt und nach Essen gesucht.
«Die Befehlshaber haben die Menschen zu Wilden gemacht und die Tatsache ignoriert, dass sie schlafen, essen und duschen müssen. Wie Wilde haben wir alles gegessen: Haferflocken, Brei, Konfitüre, Honig, Kaffee. Es war uns egal, man hatte uns schon bis an die Grenzen getrieben. Die meisten hatten einen Monat an der Front verbracht – ohne einen Hauch von Komfort, einer Dusche oder normalem Essen.»
Als Held sieht er sich nicht. Trotz all des Unrechts liebe er seine Armee noch immer: «Den Tod meiner meist jungen Kameraden werde ich nicht vergessen.» Vergehen der eigenen Truppen entschuldigt er mit möglichen Vergehen der Feinde. Auch die würden plündern und «Trophäen» sammeln.
Propaganda schüre den Hass
Von nachweislichen Vergewaltigungen von ukrainischen Mädchen, Frauen und auch Buben will der im Herzen überzeugte Patriot nichts wissen. «Selbst wenn jemand eine Vergewaltigung hätte begehen wollen», schreibt Filatjew, «ich habe keinen Zweifel daran, dass seine Kameraden ihm ins Bein geschossen hätten.»
Warum der Krieg geführt wird, versteht der junge Mann nicht. «Alle reden hier davon, dass die Ukraine der Nato beitreten will. Aber greifen wir alle Länder an, die der Nato beitreten wollen? Lettland, Litauen, Estland und Polen sind bereits in der Nato. Finnland wird jetzt Mitglied der Nato.»
Japan erhebe Anspruch auf russische Inseln und die Türkei habe unlängst russisches Flugzeug abgeschossen. Sei Russland deswegen in den Krieg gezogen? Russen und Ukrainer seien keine Feinde, sinniert der Soldat. Das sei «bloss die Propaganda. Die schürt den Hass auf den Menschen nur noch mehr». (kes)