Seit 23 Jahren ist der Wladimir Putin (70) Präsident. Ein Russland ohne ihn an der Spitze? Für viele kaum vorstellbar – und trotzdem nicht ganz undenkbar. Ulrich Schmid (56), Russland-Experte an der Universität St. Gallen, sagte im September zu Blick, dass man sich im Kreml nach einem «weichen Exit-Szenario» für Putin umsehe. Und nicht nur das: «Es kann passieren, dass Putin bei den Wahlen 2024 gar nicht mehr antreten wird.»
Wie «Focus» nun schreibt, wird diese Möglichkeit immer realer. Immer mehr Entscheidungsträger und Vermögensbesitzer würden das Vertrauen in ihren langjährigen Präsidenten verlieren, denn vielen sei bewusst geworden: Putin hat versagt. Die Prognose: Für Russland ist politisch gesehen die turbulenteste seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion angebrochen.
Wer folgt auf den langjährigen Kremlchef?
«In den 23 Jahren seiner Herrschaft hat sich Putin noch nie in einer solchen Situation befunden», meint der russische Politologe Kirill Rogow. So war der aktuelle Kremlchef stets ein «starker Führer» – egal, welche kritische Situation auf ihn zugekommen war. Doch der am 24. Februar eingeläutete Krieg gegen die Ukraine machte Putin – spätestens seit der Annexion der vier ukrainischen Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson – für die politische Elite Russlands unhaltbar.
Die Politikberaterin Tatjana Stanowaja erklärt bei «Focus»: «Bis September hatten sich die russischen Eliten aus pragmatischen Gründen für die Unterstützung Putins entschieden. Jetzt sind die Ereignisse aber so weit fortgeschritten, dass ihnen vermutlich nur noch die Wahl zwischen verschiedenen Verlustszenarien bleibt.» Eine Niederlage im Krieg könne sogar einen Zusammenbruch des Regimes zur Folge haben.
Laut dem Politikexperten Abbas Galjamow, der selbst einige Zeit in Russland verbracht hat, werden erste Versuche, Putin vom Thron zu stossen, bereits in den nächsten Monaten kommen. Zudem werde die Suche nach möglichen Nachfolgern innerhalb des Systems intensiviert, heisst es bei dem Portal. Auf Galjamows Liste der möglichen Kandidaten stehen beispielsweise der Sohn des Sicherheits-Sekretärs Nikolai Patruschew (71), Dmitri Patruschew (45). Oder aber der stellvertretende Kremlchef Sergei Kirijenko (60), Moskaus Bürgermeister Sergei Sobjanin (64) oder Ministerpräsident Michail Mischustin (56).
Nawalny sieht schwarz für Russland
Insbesondere von Letzterem erhofft man sich, dass er als gemässigter Verhandlungsführer im Westen agieren könnte, so Galjamnow. Doch der inhaftierte Kreml-Kritiker und Aktivist Alexej Nawalny (46) machte diese Hoffnung in einem Beitrag in der «Washington Post» sofort wieder zunichte. Die Hoffnung, dass «die Nachfolge Putins durch ein anderes Mitglied seiner Elite diese Einstellung zum Krieg, insbesondere zum Krieg um das Erbe der Sowjetunion, grundlegend ändern wird, bestenfalls naiv.»
Für Nawalny ist die Dezentralisierung der Macht und Russlands Wandel in eine parlamentarische Republik der einzige Ausweg aus dem «ewigen Kreis eines imperialen Nationalismus». Er führt aus: «Sie gibt ihnen die Möglichkeit, weiterhin Einfluss zu nehmen und um die Macht zu kämpfen und gleichzeitig sicherzustellen, dass ihre Position nicht durch eine aggressivere Gruppierung bedroht wird.» (chs)