Auf einen Blick
- Frankreich in politischer Krise: Regierung gestürzt, Macrons Handlungsspielraum schrumpft
- 311 von 577 Abgeordneten stimmten für Misstrauensantrag gegen Barniers Regierung
- Marine Le Pen fordert Neuwahlen, will Rache an anderen Parteien
Frankreich hat am Mittwoch, dem 4. Dezember, eine der schwersten politischen Krisen seiner jüngeren Geschichte erlebt. Die Tatsache, dass eine grosse Mehrheit von 311 der 577 Abgeordneten für den Misstrauensantrag gestimmt hat, um die Regierung von Michel Barnier (73) zu stürzen, bedeutet, dass die zweite Amtszeit von Emmanuel Macron (46) immer chaotischer werden wird.
Barnier hat für Macron bezahlt
Premierminister Michel Barnier hatte die Verabschiedung des Sozialhaushalts mit einer Vertrauensfrage verknüpft. Der erst im September ernannte Barnier wird damit zum Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in Frankreichs jüngerer Geschichte.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der erst wenige Minuten vor der Abstimmung von einem Staatsbesuch in Saudi-Arabien zurückgekehrt war, muss nun einen neuen Premierminister ernennen. Eine Neuwahl kann frühestens im Juli 2025 stattfinden. Macron will sich am Donnerstag um 20 Uhr in einer TV-Ansprache an das Land wenden. Bisher hat der Präsident der Republik einen vorzeitigen Rücktritt vor dem Ende seiner zweiten und letzten Amtszeit im Mai 2027 stets abgelehnt.
Barnier hat den Preis für Macrons riskante Politik gezahlt. Die aktuelle politische Krise ist eine direkte Folge seiner Entscheidung, die Nationalversammlung am 9. Juni, am Abend der Europawahlen, überraschend aufzulösen. Und sein politischer Handlungsspielraum wird von Tag zu Tag kleiner. Das einzige Licht in diesem Tunnel, zu dem der Élysée-Palast geworden ist, ist die für diesen Samstag geplante Wiedereröffnung von Notre-Dame, fünfeinhalb Jahre nach dem Brand am 15. April 2019.
RN und NFP sind unumgänglich
Macron braucht den Rückhalt der Rassemblement National (RN) und der Nouveau Front Populaire (NFP). Der Sturz von Barnier hat bewiesen, dass beide Parteien unumgänglich sind. Die einzige Lösung für einen künftigen Premierminister besteht also darin, die Parteien auf die eine oder andere Weise in eine künftige Regierungskoalition einzubinden. Oder aber, mit ihnen einen Pakt der «Nicht-Zensur» im Austausch für grössere politische Zugeständnisse zuschliessen.
Da diese beiden Antipoden nicht zusammen regieren wollen, besteht die einzige Option darin, zwischen den beiden zu wählen. Kurz gesagt, man muss auf die eine Partei setzen, um die andere zu entwaffnen. Das heisst, entweder einen Premierminister zu ernennen, der eine rechte Regierung fortsetzt und dabei das grüne Licht oder die Beteiligung der RN einholt, oder den Linken vorzuschlagen, eine Regierung zu bilden, wie sie es seit ihrem knappen Sieg bei den Parlamentswahlen fordert.
Um ein Misstrauensvotum zu vermeiden, muss diese Linksregierung die Rechte und die Mitte hinter sich vereinen. Das ist nicht nur ein Rätsel, sondern eine fast unmögliche Aufgabe. Es bleibt die oft erwähnte Option einer technischen Regierung aus hohen Beamten, die das Land über Wasser halten soll.
Marine Le Pen hat sich gerächt
Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin des Rassemblement National für die Jahre 2012, 2017 und 2022 hat ihre Karten offengelegt. Marine Le Pen (56) will vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Oder, wenn nicht, eine Regierung, die direkt mit ihr verhandelt. Als Fraktionschefin der RN-Abgeordneten wird sie durch diesen Misstrauensantrag zur Gegnerin Nr. 1 von Emmanuel Macron und zur dominierenden Kraft auf der Rechten, da Neuwahlen zweifellos sehr günstig für ihre Partei ausfallen würden.
Für die Chefin des RN, die befürchtet, am 31. März, wenn das Urteil in ihrem Prozess wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder gesprochen wird, für mit sofortiger Vollstreckung unwählbar erklärt zu werden, ist die Stunde der Rache gekommen. Rache an allen anderen Parteien, die sich gegen ihre Formation verbündet hatten, indem sie sich in der zweiten Runde der Parlamentswahlen gegenseitig zurückzogen.
Rache auch gegen Emmanuel Macron, der sie zweimal an der Wahlurne besiegt hatte. Rache an Michel Barnier, der gehofft hatte, sie mit einem Anti-Immigrationsprogramm zu verführen, während er ihr die Wählerschaft abspenstig machte. Und schliesslich vielleicht auch Rache an ihrem Nachfolger Jordan Bardella (29), der bereits davon träumt, ihren Platz einzunehmen.
Der Abgrund des Haushalts
Die Regierung von Michel Barnier stürzte, weil der Premierminister die Verantwortung für den Haushaltsentwurf der Sozialversicherung übernommen hatte, um ihn ohne Abstimmung mithilfe von Artikel 49.3 der Verfassung zu verabschieden. Und das noch vor der Beratung des Entwurfs der Haushaltsgesetze.
In der Praxis erwiesen sich die Haushaltsverhandlungen schnell als unmöglich. Sowohl die RN als auch die NFP wollen den Hahn für die öffentlichen Ausgaben offen halten. Der Ex-Premierminister hingegen wollte den internationalen Zwängen Rechnung tragen, mit neuen Steuern und Einsparungen in zweistelliger Milliardenhöhe. Steht Frankreich vor einer grossen Finanzkrise?
Im Moment nicht, trotz steigender Zinssätze. Verschiedene Massnahmen ermöglichen es, das Budget von 2024 zumindest zu verlängern.
Aber Vorsicht: Die politische Kluft zwischen den Pragmatikern, die davon überzeugt sind, dass die Lage ernst ist und das Land den Gürtel enger schnallen muss, und denjenigen, die nichts von Sparmassnahmen oder zusätzlichen Steuern (ausser für die Reichsten) wissen wollen, ist ein Abgrund. Auch hier hat Emmanuel Macron keinen Handlungsspielraum, denn er ist derjenige, der seit 2017 die Schulden und Defizite trotz seines Erfolgs bei der Steigerung der Attraktivität des Landes noch weiter erhöht hat.
Notre-Dame, das obligatorische Wunder
Donald Trump (78) landet diesen Samstag in einem politisch gelähmten Frankreich. Der designierte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird dies sicher ausnutzen. Die 50 Staats- und Regierungschefs, die zur feierlichen Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame in Paris anwesend sein werden, werden sich wahrscheinlich die gleiche Frage stellen: Wie lange wird ihr Gastgeber, Emmanuel Macron, noch ihr Gesprächspartner sein?
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Republik inmitten einer Krise in diesem sehr säkularen Land wie Frankreich an der Seite ihres prestigeträchtigsten religiösen Monuments steht. Denn eines ist sicher: Es müsste schon ein Wunder geschehen, damit die Namen der Ministerpräsidenten (der Zentrist François Bayrou, der Konservative François Baroin, der Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, die ehemaligen Regierungschefs Jean Castex und Bernard Cazeneuve) zu einer stabilen und dauerhaften politischen Lösung führen würden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Präsident die Nationalversammlung nicht vor Juli 2025 wieder auflösen kann.