Auf einen Blick
Der aufgewirbelte Staub um die deutschen Bundestagswahlen von letztem Sonntag hat sich gelegt. Die Tränen der Freude und des Leids sind getrocknet. Was bleibt: Deutschland ist gespalten wie nie zuvor. Die einst dominanten Volksparteien verlieren weiter an Boden. Die SPD fiel mit 16,4 Prozent auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis, die Union wurde mit 28,5 Prozent zwar stärkste Kraft, erzielte aber dennoch eines ihrer schwächsten Resultate. Während die Mitte schrumpft, gewinnen die Extreme. Die AfD verdoppelte sich auf 20,8 Prozent, die Linke holte 8,8 Prozent.
Während die Wahlbeteiligung mit 82,5 Prozent auf einem Rekordhoch lag, haben sich die politischen Gräben in der Gesellschaft vertieft. Die Wahlergebnisse zeigen, dass das Land entlang dreier Bruchlinien gespalten ist. Blick zeigt auf, um welche es sich handelt.
Alt gegen Jung
Die Jugend hat sich in dieser Wahl klar positioniert – radikaler als je zuvor. Die Linke wurde mit 25 Prozent stärkste Kraft bei den 18- bis 24-Jährigen, dicht gefolgt von der AfD mit 21 Prozent. Das geht aus der Wahlanalyse von infratest dimap hervor. Erst ab 45 Jahren gewinnen Union und SPD wieder an Bedeutung.
Die Ursachen sind offensichtlich: steigende Mieten, hohe Lebensmittelpreise, ein unsicherer Arbeitsmarkt. Viele junge Wähler fühlen sich von der etablierten Politik nicht mehr vertreten und suchen nach Parteien, die grundlegende Veränderungen versprechen – egal ob links oder rechts. Viola Neu von der Konrad-Adenauer-Stiftung sieht darin keinen Generationenkonflikt, sondern einen klassischen Alterseffekt. Junge Wähler würden traditionell zu extremeren Positionen neigen, mit zunehmendem Alter ändere sich das oft. Ob sich dieser Trend in den kommenden Jahren bestätigt, bleibt offen.
Mann gegen Frau
Männer und Frauen wählen immer unterschiedlicher. Junge Männer tendieren stark zur AfD. In dieser Gruppe erreichte die Partei bis zu 36 Prozent der Stimmen. Junge Frauen hingegen wählten mehrheitlich linke Parteien, vor allem die Linke mit 35 Prozent. Während viele Männer das Gefühl haben, gesellschaftlich an Einfluss zu verlieren und mit wirtschaftlicher Unsicherheit zu kämpfen, sprechen die AfD und ihre konservativen Werte diese Ängste gezielt an.
Frauen setzen hingegen stärker auf soziale Sicherheit, Gleichstellung und Klimaschutz – Themen, die die AfD kaum anspricht. Dieser politische Geschlechtergraben spiegelt sich nicht nur in Wahlergebnissen wider, sondern sorgt auch in Familien und im gesellschaftlichen Diskurs für immer heftigere Auseinandersetzungen.
Ost gegen West
Auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung bleibt Deutschland in zwei politische Welten gespalten. Während die AfD im Osten auf über 30 Prozent kam, hielt sich die Union im Westen stabil. Der Osten misstraut den etablierten Parteien stärker, viele Menschen fühlen sich wirtschaftlich abgehängt. «Es fehlt an Zukunftszuversicht», sagt Sabine Pokorny von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Die Unzufriedenheit mit der politischen Führung ist hier besonders ausgeprägt. «Das heisst, da ist einfach ein grösseres Potenzial für populistische oder extremistische Parteien vorhanden.»
Doch auch im Westen schrumpft die Mitte. Die grossen Volksparteien vereinen immer weniger Wähler hinter sich, die Fragmentierung schreitet voran. Die Gräben zwischen Ost und West vertiefen sich weiter, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und gesellschaftlich.
Das Problem
Eine der grössten Herausforderungen für die deutsche Gesellschaft ist die zunehmende Polarisierung im Alltag. Laut Pokorny berichten viele Menschen, dass sie sich nicht mehr trauen, ihre Meinung offen zu sagen. «Ich glaube, wir müssen auch wieder im Privaten lernen, missliebige Meinungen auszuhalten, sie nicht gleich zu verurteilen und trotzdem mal nachzufragen, in den Dialog zu kommen.» Hier zeigt sich ein Problem, das über Wahlergebnisse hinausgeht: Eine gespaltene Gesellschaft, in der der Austausch zwischen den politischen Lagern immer schwieriger wird. Doch ist die Spaltung Deutschlands noch umkehrbar?
Die Lösung
Experten sehen drei mögliche Stellschrauben, an denen die Politik ansetzen könnte. Erstens könnte eine verstärkte Investition in Bildung langfristig helfen, politische Radikalisierung einzudämmen. Studien zeigen, dass höhere Bildungsabschlüsse mit einer geringeren Zustimmung zu extremen Parteien korrelieren.
Zweitens müsste die Politik soziale Ungleichheiten entschlossener angehen. Hohe Mieten, steigende Lebenshaltungskosten und Unsicherheit im Arbeitsmarkt sind Treiber politischer Unzufriedenheit. Wenn die grossen Parteien hier glaubwürdige Lösungen anbieten, könnten sie verlorene Wähler zurückgewinnen.
Drittens wird diskutiert, ob es eine neue politische Kraft in der Mitte braucht. Doch ob eine neue Partei tatsächlich eine Antwort auf die Fragmentierung sein könnte oder das Parteiensystem weiter zersplittert, bleibt offen. Die Expertinnen Neu und Pokorny sehen darin keine nachhaltige Lösung.
Wie also weiter? Die kommenden Jahre werden entscheiden, ob Deutschland eine neue politische Balance findet oder weiter in eine Phase der Instabilität und Polarisierung gerät.