Wiederherstellung der territorialen Integrität bleibt für die Ukraine eine Priorität, die nicht verhandelbar ist, wenn es um die Friedensverhandlungen geht. Erst letzten Donnerstag stellte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) in seiner Rede erneut klar: Die Rückeroberung der gesamten Ukraine, inklusive Krim, bleibt Kriegsziel. Ist die Halbinsel nach der Befreiung von Cherson das nächste Ziel?
«Ein Angriff auf die Krim wäre ein absoluter Gamechanger», sagt Ulrich Schmid (56), Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, zu Blick. Statt Land zu gewinnen, würde Kreml-Chef Wladimir Putin (70) sogar noch verlieren. Um die Krim zu erobern, müssten die Ukrainer aber einen hohen Preis zahlen. «Russland hatte genug Zeit, die Krim hochzurüsten», so Schmid weiter.
Ein Angriff auf die Halbinsel würde eine neue Eskalationsstufe bedeuten. «Moskau wird alles daransetzen, die Halbinsel zu verteidigen», sagt Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH Zürich, zu Blick. Ein grosser Teil der Bevölkerung auf der Halbinsel sympathisiere noch immer mit Russland. Als Putin 2014 die Krim annektierte, stimmten beim illegalen Referendum 95 Prozent für einen Beitritt zur Russischen Föderation.
Festungsanlagen, Verteidigungspositionen und Schützengräben
Dass Russland so an der Krim hängt, liegt auch an der zentralen Bedeutung im Krieg. Nur dank der Krim konnten russische Truppen in den ersten Kriegswochen Cherson einnehmen, erklärt Berni. Sollte der Ukraine eine Rückeroberung gelingen, so würde die logistische Versorgung der russischen Truppen im Krieg noch schwieriger werden.
Hinzukommt: Kaum ein anderer Ort ist für Russland so symbolträchtig wie die Krim. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand dort die Jalta-Konferenz statt, bei der die künftige Weltordnung verhandelt wurde. Für die russische Orthodoxie ist die Krim laut Putin «so heilig wie der Tempelberg für jene, die sich zum Judentum oder zum Islam bekennen». Russland ist bereit, dieses «heilige Land» mit allen Mitteln zu verteidigen, «deshalb bauen russischen Kräfte derzeit fieberhaft an Festungsanlagen, Verteidigungspositionen und Schützengräben», sagt Berni.
Ein Verlust könne sich Putin nicht leisten – unter keinen Umständen. «Eine Offensive auf der Krim bedeutet für Russland, dass die Ukraine russisches Territorium angreift», erklärt Schmid. Dass die Ukraine gerade eine Offensive plant, halte er aktuell für unwahrscheinlich. «Selenski setzt die Maximalforderung in den Raum, er weiss aber selbst, dass eine Offensive im Moment unrealistisch ist.»
«Die Insel frontal anzugreifen, wäre ein grosses Risiko»
Wenn die Ukraine tatsächlich Truppen auf die Krim schicken würde, würden sie an anderen Orten, wo sie gebraucht werden, wiederum fehlen. Und die Gegenwehr der Russen dürfte enorm sein. Dass der Westen die Ukraine bei einem Angriff auf die Krim unterstützt, ist fraglich.
Berni zu Blick: «Ein solcher Angriff stellt nicht nur ein militärisches, sondern auch ein diplomatisches Risiko dar. Es könnte zu einer Spaltung bei den westlichen Unterstützern führen, die für die Ukraine zentral sind.»
Strategisch sei eine Rückeroberung ohnehin nicht gerade einfach und müsse gut geplant werden. «Die Insel frontal anzugreifen, wäre ein grosses Risiko», sagt der ETH-Militärexperte. Völlig ausgeschlossen sei ein Sieg aus seiner Sicht aber nicht. «Es bräuchte streitkräfteübergreifende Überraschungsmanöver mit Landtruppen, Seelandungen und Luftangriffen vor Ort», sagt er.
Aktuell sei eine Rückeroberung der Krim noch schwierig. Aber: Die Situation scheint sich zugunsten der Ukraine zu verbessern. Der geopolitische Druck auf Putin steige laut Russland-Experten Schmid. Bundeskanzler Olaf Scholz (64) und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (68) forderten den Kreml-Chef im September dazu auf, sich aus den besetzten Gebieten in der Ukraine inklusive der Krim zurückziehen. Der Westen stärkt bislang der Ukraine den Rücken. Und sollten Putins Truppen weiter zurückgedrängt werden, sei es möglich, dass die Ukraine am Ende die Krim befreien könnte.