Auf einen Blick
Der Anschlag auf Poltawa in der Zentralukraine war verheerend: Mit nur zwei Raketen töteten die Russen letzte Woche mindestens 55 Menschen, über 270 wurden verletzt. Die Ukrainer hatten kaum Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, denn zwischen Luftalarm und Einschlägen dauerte es nicht einmal eine Minute. Solche Bombardements, gegen die die ukrainische Luftabwehr überfordert ist, dürften massiv zunehmen.
Es könnte noch schlimmer kommen. Sollten die Aussenminister der USA und von Grossbritannien, die am Mittwoch in Kiew eintrafen, der Ukraine tatsächlich den Angriff auf russisches Gebiet erlauben, könnte sich der Krieg auf Europa ausweiten. Davon ist jedenfalls der deutsche Militärexperte Ralph D. Thiele (70) überzeugt. Gegenüber Blick sagt er: «Ich bin absolut besorgt. Denn dann wird es auch für uns brenzlig.»
Mit dem Angriff auf Poltawa haben die Russen schon jetzt ein Exempel statuiert. Verwendet wurden zwei Iskander-M-Raketen. Diese haben eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern und transportieren 500 Kilo Sprengstoff. Sie werden auf eine Höhe von rund 50 Kilometern gesteuert, von wo sie das Ziel mit bis zu siebenfacher Schallgeschwindigkeit anpeilen. Drohnen fliegen zwar weiter, führen aber höchstens 50 Kilo Sprengstoff mit sich.
Iran liefert Raketen
Jetzt sollen die Russen weitere ballistische Raketen bekommen haben. Absender, so sagt US-Aussenminister Antony Blinken (62), sei Teheran. Die iranischen Geschosse ergänzen das russische Arsenal, das mit Iskander und Kinschal hochwirksame, aber auch sehr teure Raketen umfasst.
Es ist nicht klar, welchen Raketen-Typ der Iran geliefert hat. In Washington spricht man von der Kurzstreckenrakete Fath 360. Diese Rakete mit einer Sprengladung von 150 Kilo und einer Reichweite von 120 Kilometern kann in Frontnähe eingesetzt werden und Städte wie Charkiw oder Sumy ins Visier nehmen. In der Ukraine heisst es, dass es sich auch um weiterreichende Raketen wie Zolfaghar oder Fateh-110 handeln könnte.
«Dramatische Eskalation»
CIA-Chef William Burns (68) und der britische MI6-Chef Richard Moore (61) warnten bei einem gemeinsamen Auftritt in London vor einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Iran. Burns sagte laut bloomberg.com: «Sollte der Iran ballistische Raketen jeglicher Art liefern, ob Kurzstreckenraketen oder andere, wäre dies eine dramatische Eskalation dieser Verteidigungspartnerschaft.»
Das Problem: Der ukrainischen Luftverteidigung gelingt der Abschuss von rund 75 Prozent der langsamen, bis 185 Kilometer pro Stunde fliegenden Drohnen, aber nur 25 Prozent der Raketen. Die Trefferquote der Russen würde daher massiv steigen, wenn sie die schweren Raketen einsetzen würden.
Westliche Waffen auf russischem Gebiet?
Um russische Abschussstellungen und Depots auszuschalten, drängt die Ukraine dazu, dass sie mit westlichen Waffen russisches Gebiet angreifen darf. Am Mittwoch besuchten die Aussenminister der USA und Grossbritanniens, Antony Blinken und David Lammy (52), Kiew, um genau über dieses Anliegen zu beraten. Ein Entscheid ist noch nicht gefallen.
Der Westen hat bisher der Ukraine Waffen unter dem Vorbehalt geliefert, diese nur auf ukrainischem Boden zur Verteidigung einzusetzen. Ralph D. Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von EuroDefense Deutschland sowie Autor des Buches «Hybride Kriegsführung – Zukunft und Technologien», warnt eindringlich vor einer Lockerung dieser Beschränkung. Gegenüber Blick sagt er: «Die Freigabe könnte sich zu einem Krieg mit dem Westen entwickeln!»
Nuklearschlag als Warnung
Schon heute glaubten die Russen, dass die Amerikaner als agierende Kraft hinter den ukrainischen Aktionen stünden. Thiele: «Wenn westliche Geschosse Ziele auf russischem Boden angreifen, würde dies für den Kreml ein direktes Engagement des Westens im Krieg bedeuten.»
Thiele rechnet in diesem Fall mit einem «Schritt von grösseren Eskalationen» und einer «neuen Qualität des Krieges». Er schliesst nicht aus, dass dann Russland Ziele etwa in Polen und den baltischen Staaten angreifen würde.
Auch könnte der russische Präsident Wladimir Putin (71) einen Nuklearschlag verüben. Damit meint Thiele nicht die grosse Atombombe, sondern einen Warnschuss. «Als Erstes würden die Russen wohl auf dem Gefechtsfeld eine kleine nukleare Demonstration vorführen, um zu zeigen, dass für sie die rote Linie erreicht ist und sie zu allem bereit sind.»
Ein solches Szenario mit russischen Angriffen auf Nato-Länder würde auch den Westen in den Krieg miteinbeziehen. Thiele ist daher besorgt: «Eine Aufhebung der Reichweitenbeschränkung mit westlichen Waffen ist brandgefährlich. Das könnte auch uns an den Lebensnerv gehen.»