Auf einen Blick
Kein warmes Essen, kein Licht, keine Heizung: Millionen von ukrainischen Zivilisten werden spätestens im Winter leiden, Hunderte, wenn nicht Tausende, dürften gar erfrieren. Die Russen haben die Bombardierung von Energie-Einrichtungen intensiviert. Energieminister Herman Haluschtschenko (51) warnt: «Wir stehen vor dem härtesten Winter in unserer Geschichte.»
Den Ukrainern bleiben nur wenig Chancen, die Kraftwerke und Verteileranlagen zu schützen. Denn die Russen haben ihre Taktik verändert.
Denis Trubetskoy (31), politischer Korrespondent in Kiew, sagt gegenüber Blick: «Vor anderthalb Jahren setzte Russland vor allem auf die gezielte Zerstörung der Transformatoren der Umspannwerke, damit die Elektrizität beim Endkunden nicht ankommt. Seit Ende März setzt Russland jedoch massiv die teuersten Raketen und Marschflugkörper aus ihrem Arsenal an, um gezielt und nachhaltig Wasser-, Kohle- und Gaskraftwerke zu zerstören.»
Diese Feststellung macht auch Marcel Berni (36), Strategieexperte an der Militärakademie der ETH: «Wir sehen, dass die russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur immer präziser und zerstörerischer werden, etwa mit Doppelschlägen.»
Ukrainer an der Front ausgeliefert
Berni geht davon aus, dass Moskau Kiew weiterhin zwingen will, die spärlich vorhandene Luftabwehr in den Städten und abseits der Front zum Schutz der Energieversorgung und der Zivilbevölkerung zu stationieren. So würden die ohnehin schon dezimierten ukrainischen Frontverbände weiter geschwächt.
Der bevorstehende Winter ist laut Berni der Grund, dass beide Seiten zurzeit so viel Gelände wie möglich unter Kontrolle bringen wollen. «Bei kalten Temperaturen kann man auf gefrorenem Boden zwar häufig schweres Gerät leichter verschieben. Aber es kommt auch zu sogenannen Friktionen, das heisst, das Gerät vereist, Nachschubwege werden länger und die Motivation sinkt.»
Taktik mit Drohnenangriff
Inzwischen gibt es in der Ukraine kein Kraftwerk mehr, das noch nicht von Raketen getroffen worden ist. Durch die Zerstörung von Anlagen oder deren Einnahme hat die Ukraine 9 Gigawatt an Leistung verloren. Das entspricht 9 Kraftwerken in der Grösse des AKW Gösgen. Damit verfügt die Ukraine nur noch über die Hälfte an Energieleistung, die sie für einen Winter braucht – sofern er mild ist.
Zur Taktik der Russen gehört auch, bewusst Schwächen des Gegners auszuspielen. Zum Beispiel beim Beschuss des Wärmekraftwerks Trypillja im April. Von elf Raketen gelang es den Ukrainern, sieben rechtzeitig zu neutralisieren. Die vier restlichen setzten die grosse Anlage ausser Betrieb. Warum die Ukrainer diese vier nicht abfangen konnten? Weil ihnen die Abwehrraketen ausgegangen waren.
In einem Interview mit n-tv.de erklärte Dmytro Sakharuk, Geschäftsführer des grossen privaten Energiekonzerns DTEK: «Im Dezember, Januar und Februar schickten sie Tausende dieser billigen Shaheed-Drohnen, um unsere Verteidigung zu erschöpfen. Als sie merkten, dass unsere Vorräte fast auf null gingen, wussten sie: Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, um Raketen zu schicken.»
Ersatz aus alten Kraftwerken
Weil Ersatzteile wie Turbinen, Generatoren und Transformatoren nicht einfach bei den Produzenten herumliegen, sondern monatelange Produktionszeiten benötigen, versuchen die Ukrainer, sich mit Ersatzteilen aus alten Kraftwerken in Polen, Bulgarien, Griechenland und Tschechien einzudecken.
Mehr zum Kampf um Kraftwerke
Eine kleine Kompensation mit einem Potenzial von gegen 2,5 Gigawatt liefert der Strom aus dem europäischen Stromnetz, an das die Ukraine kurz nach Kriegsbeginn angeschlossen wurde. Sakharuk plädiert dafür, möglichst viele 25-Megawatt-Gasturbinen und 18-Watt-Dieselgeneratoren dezentral aufzustellen und sie ans Netz anzuschliessen.
Hunderte von Erfrorenen
Der Winter in der Ukraine ist hart, an verschiedenen Orten fallen die Temperaturen auf bis zu minus 25 Grad. Schon vor der Invasion der Russen erfroren in besonders kalten Wintern über 800 Menschen. Nun dürften es deutlich mehr werden.
Klar ist: Die Ukraine wird im Winter den Stromverbrauch beschränken müssen. Laut Sakharuk könnte es in der Hauptstadt Kiew zu Intervallen von zwei Stunden mit Strom und sieben Stunden ohne Strom kommen. Man müsse sogar mit Stromunterbrüchen von bis zu 20 Stunden an einem Tag rechnen.
Auch Denis Trubetskoy rechnet mit einem harten Winter. Das bedeute für die Ukrainer vor allem eines: «Sich vorzubereiten, in dem man sich Generatoren, Kerzen und Powerbanks besorgt, denn einen Ausweg gibt es hier nicht.»