Tschernobyl war schon immer ein gefährlicher Ort. Am Nachmittag des 24. Februar 2022 wurde er auf einen Schlag noch gefährlicher. Russische Soldaten überfielen das Gelände der Atomruine. «Wie ein Angriff riesiger Ameisen sah das auf meinen Überwachungsbildschirmen aus», erzählt Ludmilla Kozak (45), die Sicherheitsverantwortliche des stillgelegten Kraftwerks. Die Russen hätten sie als Geiseln genommen und rücksichtslos alles aufgebrochen. «Sie hatten keine Ahnung, wo sie hier gelandet sind.» Keine Ahnung, wie gefährlich ihre atomare Plünderei sein würde.
45 Tage dauerte die russische Belagerung von Tschernobyl. Ludmilla Kozak und ihre Mitarbeitenden sassen in der Falle. Bewachung rund um die Uhr, maximal drei Stunden Schlaf am Stück, das immergleiche Essen, kaum frische Wäsche, drei Pinkelpausen pro Arbeitsschicht. «Immer weitermachen», lautete der Befehl.
Tschernobyl ist seit dem Reaktor-Unfall am 26. April 1986 der am stärksten verstrahlte Ort der Welt. Blick wagte sich für eine Reportage in die Nähe der Atomruine. Unsichtbar und geruchlos flimmert die Radioaktivität durch die gespenstische Zone – noch für Jahrtausende. Ein 36'000-Tonnen-Sarkophag aus Beton liegt über dem explodierten Reaktor. Ein ganzes Heer von Nuklear-Spezialisten ist rund um die Uhr im Einsatz. Sie trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, was die russischen Besatzer am ersten Tag nach ihrem Überfall im berüchtigten «roten Wald» von Tschernobyl taten.
«Sie kotzten und hatten geschwollene Gesichter»
Der «rote Wald» ist die am stärksten kontaminierte Zone im 4000 Quadratkilometer grossen Sperrgebiet. Hier landete die meiste atomare Asche nach der Reaktorkatastrophe 1986, hier versickerte der saure Regen. Fünf Minuten darf man sich hier allerhöchstens aufhalten, das Auto ja nicht verlassen, nichts anfassen. «Die Russen aber haben da Gräben ausgehoben und ihr Lager aufgeschlagen – für mehrere Wochen», ruft Ludmilla Kozak und schüttelt ungläubig den Kopf. «Ihre Gesichter waren geschwollen und ganz rot.» Sie hätten die ganze Zeit gekotzt. «Ich wette mit dir, viele von denen sind heute nicht mehr am Leben.» Das geschehe ihnen recht.
Ende März 2022 sind die Russen abgezogen. Ukrainische Soldaten kontrollieren heute die Strassenkreuzungen und die wichtigen Gebäude im Sperrgebiet. Jedes Foto, das Blick macht, wird vom Geheimdienst gecheckt, damit wir keine militärischen Positionen verraten. Tschernobyl, knapp zwei Autostunden nördlich von Kiew, ist einer der am strengsten gesicherten Orte in der Ukraine. Niemand will sich ausmalen, was passieren würde, wenn in der grössten Atomruine der Welt etwas ausser Kontrolle geriete.
Am 10. März 2022 kam es fast so weit. Die Stromversorgung brach zusammen. Ohne Strom keine Kühlung der Brennstäbe. Ohne Kühlung akute Gefahr von weiteren Nuklearkatastrophen. «Das versuchten wir den Russen verzweifelt zu erklären», erzählt Ludmilla Kozak. Der Kraftstoff für die Generatoren wurde knapp. «Also überzeugten wir die Soldaten, uns Diesel aus ihren Militärfahrzeugen zu geben.» Das haben sie tatsächlich gemacht. «Statt für den geplanten Sturm auf Kiew nutzten sie ihre Dieseltanks für die Notstromaggregate», erzählt Kozak. Ein doppelter Sieg: Tschernobyl blieb sicher – und die russische Militärkolonne kam zum Halt.
Zehn-Tage-Schicht in der atomaren Strahlenzone
Blick trifft die Sicherheitschefin und zwei ihrer Mitarbeiter in Slawutytsch, knapp 50 Kilometer von der Atomruine entfernt. Hierhin wurden die Nuklear-Arbeiter nach der Katastrophe 1986 gebracht. Jeder hier hat einen Job im Sperrgebiet. Statt wie vor dem Krieg mit dem Zug in einer knappen Stunde hinfahren zu können, müssen die Tschernobyl-Büezer heute aber den mühsamen Umweg mit dem Bus via Kiew auf sich nehmen. Sechs Stunden dauert die Fahrt. Eine Alternative gibt es nicht. Die Eisenbahnbrücken wurden gesprengt. Die belarussische Grenze, über die der Zug hinüber nach Tschernobyl tuckerte, ist zu.
Statt wie früher am Abend nach Hause zu kommen, müssten er und seine Kollegen jetzt jeweils für zehn Tage drüben in Tschernobyl bleiben, erzählt Oleksander Cherepanov (42). Der kahlköpfige Mann mit den eisgrauen Augen ist Spezialist für radioaktive Abfälle. «Dieser Arbeitsrhythmus hat meine Familie zerstört», sagt er. «Ich zehn Tage weg, dann meine Frau zehn Tage, das hat nicht funktioniert.»
An die Russen, die ihn 45 Tage lang gefangen hielten, erinnert er sich gut. «Eines Tages drehten sie einen Propaganda-Clip für ihren TV-Sender und verkleideten sich als Tschernobyl-Mitarbeiter», erzählt Cherepanov und lacht. «Sie platzten fast aus den viel zu engen Schutzanzügen.» Und als sie die Jodtabletten für den atomaren Notfall fanden und fragten, was das sei, da hätte er ihnen gesagt: «Erektionspillen! Müsst ihr unbedingt ausprobieren.»
Tschernobyl-Bewohner: «Wir haben täglich Sex – trotz der Radioaktivität»
Drüben in Tschernobyl wirkt vieles wieder wie vor dem russischen Überfall. Der verseuchte Fluss Prypjat plätschert friedlich durch seinen Kanal. Die Kräne um den nie fertig gebauten Reaktor 5 recken ihre rostigen Arme in den Winterhimmel. Neu sind die furchteinflössenden Puppen an den Strassenrändern, die mit ihren Fake-Waffen in die Landschaft zielen. Militärische Vogelscheuchen.
Doch da ist keiner mehr, den man verscheuchen muss. Die Russen sind abgezogen. «Zum Glück», sagt Tamara Petrovic (59). Sie und ihr Mann Vasil gehören zu den wenigen Menschen, die nach dem Reaktorunfall trotz der Warnungen der Regierung wieder in ihr kleines Haus mit dem grossen Garten mitten in der Sperrzone zurückgekehrt sind. «Die Radioaktivität macht uns nichts. Ich bin 71 und wir haben noch immer jeden Tag Sex», witzelt ihr Mann Vasil und schenkt dem Blick-Reporter ein Glas Honig. «Von den Tschernobyl-Bienen, wunderbar süss!»
Die Touristen, die vor dem Krieg mit ihren Geigerzählern zu Tausenden hier durch die Gegend stolperten, die vermissten sie, die seien lustig gewesen, sagt Tamara Petkovic. «Wir hoffen, die kommen bald wieder.» Die Russen aber, die sollen bleiben, wo sie sind. «Die haben nichts verloren hier in unserer schönen Heimat.»