ETH-Militärexperte Marcel Berni ordnet den Strategiewechsel ein
Wieso Russland wieder ukrainische Städte angreift

In den vergangenen Tagen regnete es Dutzende russische Raketen auf die Ukraine – nicht nur an der Front, sondern vor allem auch auf ukrainische Städte. Damit verfolgt Russland wiederum eine alte Taktik, um die Ukrainer massiv zu schwächen.
Publiziert: 22.03.2024 um 18:30 Uhr
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Aktualisiert: 23.03.2024 um 15:42 Uhr
Russland greift wieder die Städte der Ukraine an. Dahinter steckt ein perfides Kalkül.
Foto: keystone-sda.ch
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Vom Kraftwerk bis zum Wohnblock, von der Energieleitung bis zum Bus – kein Ort ist sicher vor dem, was der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) am Freitag als «russischen Krieg gegen das Leben der einfachen Menschen» beschreibt.

Nach einer trügerischen Pause von 44 Tagen erlebt die Ukraine nun eine erneute Eskalation: Allein in den Nächten auf Donnerstag und auf Freitag gingen Hunderte russische Raketen auf ukrainische Städte nieder. Was es mit diesem Strategiewechsel der Russen auf sich hat, erklärt ETH-Militärexperte Marcel Berni.

Russland lässt Raketen auf die Ukraine regnen

Kiew, Charkiw, Saporischschja: In einer erschütternden Serie von Angriffen zittern auch weit hinter der Frontlinie gelegene Städte unter dem Donner russischer Raketen. Nach 44 Tagen Pause wurde auch die ukrainische Hauptstadt Kiew angegriffen, Charkiw zählte ganze 15 Explosionen, die auf russische Raketen zurückzuführen sind. Diese zielten laut Bürgermeister Ihor Terechow auf die Stromversorgung der Stadt ab.

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In den letzten Tagen haben russische Angriffe auf ukrainische Städte weit hinter den Frontlinien wieder drastisch zugenommen.
Foto: Anadolu via Getty Images

Auch vor kritischer ukrainischer Infrastruktur machte Russland nicht Halt. Laut Meldungen auf X wurde das Wasserkraftwerk am Dnipro-Staudamm, das ein wichtiger Bestandteil der ukrainischen Stromversorgung ist, von russischen Raketen getroffen. Und das von Russland besetzte Kernkraftwerk Saporischschja stand am Rande eines Stromausfalls, nachdem ein massiver Raketenangriff auf die Ukraine am Freitagmorgen eine seiner Stromleitungen gekappt hatte, so die ukrainische Militärverwaltung für die Region.

Als Rechtfertigung für diese Welle der Zerstörung führt das russische Verteidigungsministerium am Freitag auf seinem Telegram-Kanal «Vergeltung» für die ukrainischen Angriffe auf Belgorod und Kursk, bei denen allein im März mindestens 20 Zivilisten getötet und über 100 weitere verletzt wurden – darunter Kinder, an. Ziel sei es, die ukrainische Rüstungsindustrie und die Lieferungen aus dem Westen zu treffen, um so die Produktion und Reparatur von Waffen sowie den Einsatz ausländischer Militärausrüstung und Kampfmittel zu stören – ein strategisches Kalkül, das tiefe Einschnitte in die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine hinterlässt.

Strategiewechsel mit klarem Ziel

Die russische Militärführung hat klar ihre Strategie geändert. Das erkennt auch ETH-Militärexperte Marcel Berni, wie er im Gespräch mit Blick bestätigt. Allerdings ist diese Taktik nicht neu, sondern: «Es ist eher eine Rückkehr zur russischen Luftkriegsführung von 2023.» Denn dieser Strategiewechsel hatte sich bereits damals gelohnt.

Für Russland birgt der Beschuss des ukrainischen Landesinnern nämlich wenig Gefahren, erklärt Berni: «Die russische Luftwaffe muss nicht mal in den ukrainischen Luftraum eindringen und kann aus der Distanz die ukrainische Stromversorgung unter Beschuss nehmen.» Kleines Risiko also, dafür hoher Ertrag.

Das Kalkül von Kremlchef Wladimir Putin (71) bei der Sache: «Moskau will Kiew weiterhin dazu zwingen, die spärlich vorhandene Luftabwehr in den Städten abseits der Front zum Schutz der Energieversorgung und der Zivilbevölkerung zu stationieren.» Denn aktuell hat die Ukraine nicht ausreichend Luftabwehr zur Verfügung, um die Front und die Städte im Innern des Landes zu schützen, das bestätigt auch Ukraine-Präsident Selenski in seiner Nachricht von Freitagmorgen.

Selenski vor schwerer Entscheidung

Wenn Selenski also die Infrastruktur der Ukraine schützen möchte, muss er seine Soldaten an der Front schutzlos zurücklassen. «So werden die ohnehin schon dezimierten ukrainischen Frontverbände weiter geschwächt», erklärt Berni. Dabei sind die ukrainischen Soldaten an der Front sowieso bereits schwach.

Das schreibt die amerikanische Denkfabrik «Institute for the Study of War» in ihrer Analyse der letzten Tage: «Die russischen Streitkräfte stützen sich im Allgemeinen auf ihre personelle und materielle Überlegenheit, um ein relativ gleichmässiges Angriffstempo gegen ukrainische Stellungen entlang der Frontlinie durchzuführen, in der Hoffnung, die ukrainischen Verteidiger zu zermürben und die Voraussetzungen für die Ausnutzung ukrainischer Schwachstellen zu schaffen.»

Selenski muss also eine schwere Entscheidung treffen: Soldaten oder Zivilisten? Beide stehen unter der Bedrohung durch die unaufhaltsamen Raketenangriffe. Abhilfe für dieses Dilemma würden weitere Waffen aus dem Westen schaffen. Am Freitagmorgen forderte Selenski deshalb erneut Patriot-Systeme von den westlichen Verbündeten. «Unsere Partner wissen genau, was gebraucht wird», so Selenski. «Das Leben muss vor diesen Unmenschen aus Moskau geschützt werden.»

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