Auf einen Blick
Die Ukraine wird in die Mangel genommen. Vom Osten und vom Schwarzen Meer im Süden aus führen die Russen mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen die schwersten Luftangriffe auf mehrere Städte seit Ausbruch des Krieges.
Beim Kiewer Meer, einem Stausee 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt, schlugen am Montagmorgen Raketen ein. Mindestens ein Geschoss traf den Staudamm, der ein Wasservolumen zurückhält, das mit jenem des Zürichsees vergleichbar ist. Ein Bruch hätte die Überflutung grosser Flächen sowie viele Todesopfer zur Folge. Was hat Putin jetzt vor?
Denis Trubetskoy (31), politischer Korrespondent in Kiew, sagt gegenüber Blick: «Der Angriff auf das Wasserkraftwerk passt insgesamt in die Logik der ganzen Angriffe, die seit März 2024 andauern. Die Russen trauen es sich nicht zu, AKWs direkt anzugreifen. Bei Wasser- und Wärmekraftwerken machen sie aber keinen Halt.»
Den Russen gehe es weniger um die Überflutung Kiews, sondern mehr um die Vernichtung der Energie-Infrastruktur. Trubetskoy: «Den Staudamm mit Raketen zu zerstören, ist eine extrem komplizierte Aufgabe, wenn nicht gar eine unmögliche.»
Beim Bersten des Kachowka-Stadamms am 6. Juni 2023 hätten andere Umstände zur Katastrophe geführt, die weite Teil der Südukraine überflutete und mindestens 62 Tote forderte. Der Kachowka-Damm stand damals unter russischer Kontrolle, womit die Invasoren genügend Zeit hatten, Sabotage-Akte vorzubereiten.
Krieg gegen die Energieinfrastruktur
Ralph D. Thiele (70), Vorsitzender der deutschen Politisch-Militärischen Gesellschaft und Präsident von Eurodefense Deutschland sowie Autor des Buches «Hybride Kriegsführung – Zukunft und Technologien», bezeichnet die massiven Luftangriffe vom Montag als «Krieg im Krieg mit Blick auf die gegenseitige Energie-Infrastruktur».
Die russische Wirkung nennt Thiele «beachtlich». Er prophezeit: «Die Ukraine wird im Winter wohl nur wenige Stunden pro Tag den Strom anstellen können.» Auf der andern Seite müsse Russland mit einer Reduktion der Gasproduktion von 15 Prozent klarkommen, was bereits Auswirkungen auf die Weltmarktpreise habe.
Laut Thiele war damit zu rechnen, dass es nach dem Vorstoss der Ukrainer auf russischem Gebiet zu einem «verheerenden Gegenschlag» kommen würde.
Belarus-Armee bringt sich in Stellung
Gleichzeitig zum massiven Beschuss marschiert im Norden bedrohlich die belarussische Armee an der Grenze auf und bringt bei der Stadt Homel Panzer, Kampfjets, Artillerie, Mehrfach-Raketenwerfer und Luftabwehrsysteme in Stellung. «Nur eine Übung», beschwichtigt Machthaber und Putin-Marionette Alexander Lukaschenko (69).
Thiele warnt vor dem neuen «möglichen Angriffsvektor», den die Ukraine wachsam im Auge behalten müsse. Belarus könnte im Moment um 60’000 Soldaten in Marsch setzen. Thiele: «Obwohl deren Schlagkraft nicht bedeutsam ist, sind es zu viele, um sie zu ignorieren.»
Die Chance auf ein tatsächliches Eingreifen der belarussischen Armee in den Krieg hält Thiele allerdings für klein. «Sie hält sich bisher erfolgreich aus dem regulären Krieg heraus, muss aber den Informationskrieg mitmachen.»
Wechseln die Belarus-Soldaten die Seite?
Diese Aussagen unterstreicht Andrei Sannikov (70), der 1994 unter Lukaschenko aus Protest als stellvertretender Aussenminister den Dienst quittierte und heute als Vorsitzender der Bewegung «Europäisches Belarus» amtet.
Sannikov sagt gegenüber Blick: «Putin zögert, weil er nicht weiss, was er von der belarussischen Armee zu erwarten hat und auf welcher Seite sie stehen wird.» Die Opposition erkläre schon lange, dass sie sich bei einem Marschbefehl den Ukrainern anschliessen würde.
Auch Söldner der Wagner Gruppe bringen sich an der belarussisch-ukrainischen Grenze in Stellung. Die russische Privatarmee ist aber seit dem Tod ihres Chefs Jewgeni Prigoschin (†62) vor einem Jahr zersplittert. Laut Sannikov dürften es in Belarus «einige Hundert» sein, die für jede Art von Provokation an der Grenze eingesetzt werden könnten.
Belarus war vor allem zu Beginn der Invasion ein Helfer der Russen. Lukaschenko erlaubte Putins Armee, von Belarus aus Angriffe auf die Ukraine zu starten. In den Krieg aktiv involviert war Belarus bisher nicht.
Lukaschenko gilt als Putins Marionette. Sannikov: «Seit Kriegsbeginn ist er noch abhängiger von Moskau geworden, da Putin die einzige Quelle für seine finanzielle Unterstützung ist.» Im Hinblick eines möglichen Kriegseintritts der belarussischen Armee steht für Sannikov daher fest: «Wenn Putin befiehlt, wird Lukaschenko gehorchen.»