84 Raketen und Marschflugkörper sowie 24 Kampfdrohnen: Mit Angriffen auf Städte in der ganzen Ukraine hat sich Moskau am Montag für den Anschlag auf die Krim-Brücke gerächt. Abgesehen hatten es die Russen auf zivile Infrastrukturen wie Verkehrsknotenpunkte und die Stromversorgung. Aber auch ein Kinderspielplatz wurde getroffen.
Am Dienstag ging der Fernbeschuss weiter. Die Russen feuerten rund 20 Raketen in Richtung Kiew, Odessa und weitere Regionen ab. Im Gebiet Winnyzja südwestlich von Kiew wurde ein Heizkraftwerk mit Kampfdrohnen zerstört. Laut ukrainischen Medien sind aber auch viele Raketen durch das ukrainische Abwehrsystem abgefangen worden.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) sagte: «Die Besatzer können uns auf dem Schlachtfeld nicht entgegentreten, und deshalb greifen sie zu diesem Terror.»
Schwächelnde Bodentruppen
Dass die Russen nun auf Fernbeschuss setzen, hat tatsächlich mit ihren Bodentruppen zu tun. Wolfgang Richter (73), ehemaliger Oberst der deutschen Bundeswehr und heute Militärexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sagt gegenüber Blick: «Die Russen müssen die Schwächephase ihrer Landstreitkräfte überbrücken, indem sie den Luftkrieg intensivieren.»
Auf russischer Seite rechnet man mit 50'000 bis 60’000 Soldaten, die gefallen, verwundet oder nicht mehr einsatzbereit sind. Laut Richter verfügen die Russen in der Ukraine möglicherweise nur noch über 120’000 Soldaten, die durch etwa 30'000 ostukrainische Milizionäre verstärkt werden.
Ihnen steht eine ukrainische Armee gegenüber, die nach der Einberufung von Reserven und der Territorialverteidigung bis zu 700’000 hoch motivierte aktive Soldaten umfassen dürfte.
Die Reserve kommt nur langsam
Vor drei Wochen hatte Präsident Wladimir Putin (70) angekündigt, eine Reserve von 300’000 Mann zu mobilisieren. «Bis diese Kräfte ausgebildet, ausgerüstet und an die Front gebracht worden sind, dauert es wohl zwei bis drei Monate», meint Richter.
In dieser Übergangsphase versuchten die Russen, die Infrastruktur der Ukrainer zu beschädigen. Richter: «Mit Angriffen auf Bahnknotenpunkte und die Elektrizitätsversorgung sorgen sie dafür, dass der logistische Nachschub und die Bahnverlegung von schweren Waffen wie Artillerie und Kampfpanzern aus dem Westen erschwert werden.»
Die Bombardements hätten Einfluss auf die Gegenoffensive der Ukrainer, meint Richter. «Für einen grossen Angriff auf die Krim fehlen den Ukrainern die Kräfte», meint er. Schwierigkeiten würden zunächst die Einnahme der Stadt Cherson und die Überwindung des Dnipro machen, zumal die Ukrainer die Brücken zerstört haben.
Russen haben vorgesorgt
Beobachter sprachen davon, dass Russland nun alle seine modernen Raketen verschossen habe und nur noch über altes Material verfüge. Wolfgang Richter ist skeptisch. «Über wie viele moderne Raketensysteme Russland noch verfügt, wissen wir nicht genau. So wurden bisher die landgestützten Iskander-Raketen und Marschflugkörper, die von Flugzeugen aus abgeschossen werden können, nur in begrenzter Zahl eingesetzt.»
Richter ist davon überzeugt, dass die Russen für den Krieg vorgesorgt haben. Deshalb schätzt er ihre Waffenbestände als gross ein. «In Russland lagern zahlreiche Grosswaffensysteme in Depots, darunter über 9000 Kampfpanzer. Die dürften zwar derzeit nicht einsatzbereit sein, aber ein Grossteil könnte in absehbarer Zeit instand gesetzt werden.»