ETH-Experte Bollfrass schätzt Suspendierung von «New Start»-Vertrag ein
«Wir befinden uns im nuklearen Wilden Westen»

Kein Atomabkommen mehr zwischen Russland und den USA. Für die Welt bedeutet das vor allem eins: nukleare Ungewissheit.
Publiziert: 22.02.2023 um 19:29 Uhr
|
Aktualisiert: 24.02.2023 um 11:36 Uhr
1/7
Wladimir Putin setzt das Atomabkommen mit den USA, «New Start», aus.
Foto: keystone-sda.ch
BlickMitarbeiter06.JPG
Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

«Russland suspendiert seine Beteiligung am «New Start»-Vertrag.» Mit diesem Satz hat Kremlchef Wladimir Putin (70) am Dienstag nicht nur ein historisches Atomabkommen suspendiert, das in einer ersten Form zum Ende des Kalten Kriegs beigetragen hat. Sondern er hat auch einen der letzten Kommunikationskanäle mit den USA gekappt. Die internationale Kontrolle über Russlands Atomarsenal wird immer kleiner.

Auch wenn der Eindruck schon länger vorherrscht, dass sich Russland über Abmachungen hinwegsetzt, ist die Suspendierung keineswegs reine Symbolik, betont Alexander Bollfrass (38), Militär- und Atomwaffenexperte an der ETH, im Gespräch mit Blick. Er warnt: «Russland hat die Leitplanken, die eine Eskalation vermeiden sollten, rücksichtslos durchbrochen.» Leitplanken, die am Ende des Kalten Kriegs geschaffen wurden, da Russland in den Augen des Westens in Sachen Atomwaffen kein Vertrauen verdient hat.

Der Experte vermutet, dass Putin eher ein politisches Zeichen setzen wollte, als sein Atomarsenal drastisch auszubauen. «Mit dieser Entscheidung scheint Putin klarzustellen: Er möchte nicht mehr an internationale Abkommen und Normen gebunden sein – weder in nuklearen noch in humanitären Fragen.»

Der «New Start»-Vertrag

Der Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen (START) wurde am 31. Juli 1991 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion beschlossen. Er sah die Reduzierung der strategischen Atomwaffen bis zum Jahr 2009 vor.

Das Nachfolgeabkommen, der «New START» wurde 2010 beschlossen und 2021 nochmals verlängert.

Das Abkommen sieht vor, dass die Vertragsparteien die Zahl ihrer nuklearen Sprengköpfe auf maximal 1550 und die Zahl der nuklearen Trägersysteme auf 800 reduzieren – von Letzteren dürfen nicht mehr als 700 im Einsatz sein. Zudem wird der Austausch von relevanten Informationen zum Nukleararsenal gewährleistet.

Der Vertrag zur Verringerung der strategischen Nuklearwaffen (START) wurde am 31. Juli 1991 zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion beschlossen. Er sah die Reduzierung der strategischen Atomwaffen bis zum Jahr 2009 vor.

Das Nachfolgeabkommen, der «New START» wurde 2010 beschlossen und 2021 nochmals verlängert.

Das Abkommen sieht vor, dass die Vertragsparteien die Zahl ihrer nuklearen Sprengköpfe auf maximal 1550 und die Zahl der nuklearen Trägersysteme auf 800 reduzieren – von Letzteren dürfen nicht mehr als 700 im Einsatz sein. Zudem wird der Austausch von relevanten Informationen zum Nukleararsenal gewährleistet.

Putin könnte Atomwaffen auf dem Schlachtfeld einsetzen

Nach Angaben des russischen Aussenministeriums wird sich Russland jedoch weiterhin an die im Vertrag festgelegten Obergrenzen für das strategische Atomwaffenarsenal halten. Für Bollfrass ist das aber noch lange kein Grund zur Beruhigung. «Je weniger Kommunikationskanäle es gibt, desto grösser ist die Gefahr einer tragischen Fehlkommunikation.»

Auch die Angst vor einer nuklearen Eskalation seitens Russland hält er für berechtigt. «Es ist möglich, dass Russland Atomwaffen einsetzt, um die Defizite seines Militärs auszugleichen.» Doch, so der Experte, würde dies nur wenige Vorteile bringen. «Es würde wahrscheinlich China verärgern, das Russlands wichtigster Partner bei seinem Angriff auf die globale, auf Regeln basierende Ordnung ist.» Denn auch China hat Russland wiederholt davon abgeraten, Nuklearwaffen einzusetzen.

Wettrüsten ist nur noch Frage der Zeit

Mit Putins Ankündigung zum «New Start»-Aus habe nun ein langfristiges Problem begonnen. «Wir befinden uns jetzt im nuklearen Wilden Westen», stellt Bollfrass fest.
Ohne ein russisch-amerikanisches Atomabkommen sei ein Wettrüsten – unter anderem mit China – nur eine Frage der Zeit. Auch wenn es ein solches Abkommen mit China nicht gibt, könnte auch dieses Land bald seine nuklearen Fähigkeiten weiter erhöhen.

Denn ohne den Datenaustausch, den solche Abkommen garantieren, beginnen bald alle Seiten das Schlimmste über die andere Seite anzunehmen. «Deshalb werden sie versuchen, ihr eigenes Arsenal zu erhöhen, um sich abzusichern. Bemühungen um eine nukleare Abrüstung werden praktisch unmöglich sein», so Bollfrass.

Ein erneutes Indiz dafür, dass sich die Welt in einem neuen kalten Krieg befindet. Keiner traut dem anderen, und nukleare Einschüchterung könnte die einzige Lösung sein, um an der Macht zu bleiben.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?