Seit über zwei Monaten führt Wladimir Putin (69) einen brutalen Krieg in der Ukraine. Und seit über zwei Monaten schwebt ein atomares Damokles-Schwert über dem Westen – der Kremlchef droht immer wieder mit starken Reaktionen, sofern sich die Nato oder ganz generell westliche Staaten in den Krieg einmischen würden. Direkt wurde der Einsatz von Atomwaffen nie angesprochen, doch die verwendeten Ausdrücke sprechen Bände.
Am Dienstag verkündete Russland, dass rund 100 Soldaten einen Atomangriff mit dem Iskander-Raketensystem üben. Und das ausgerechnet in der Exklaven-Oblast Kaliningrad, in nächster Nähe einer Vielzahl EU- und Nato-Staaten. Folgt nun tatsächlich der Atomkrieg vor der westlichen Haustüre?
Atomwaffen-Drohung «rein politische Aktion»
Während vieles darauf hindeutet, dass sich Russland auf einen Nuklearangriff vorbereitet, wird von der russischen Politik beschwichtigt. Aussenminister Sergei Lawrow (72) warnte vergangene Woche davor, einen Dritten Weltkrieg auszulösen, und betonte, dass man auch aus russischer Sicht die Gefahr für einen Atomkrieg möglichst kleinhalten wolle. Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow (54) betonte mehrmals, dass Russland seine Atomwaffen nur im Fall einer «existenziellen Bedrohung» einsetzen wolle. «Wir haben ein Konzept für innere Sicherheit, das ist bekannt», so Peskow.
Sicherheitspolitik-Experte und Nato-Kenner Liviu Horovitz (38), tätig bei der Stiftung Wissen und Politik in Berlin (SWP), beobachtet die Warnzeichen besorgt, aber kritisch. «Die Nähe zur Nato und der EU ist von Russland womöglich bewusst gewählt worden», erklärt Horovitz im Gespräch mit Blick. Denn: Die Raketen des Typs Iskander-M, die mit nuklearen Sprengköpfen ausgestattet werden können, sind nicht nur in Kaliningrad stationiert.
Die Drohgebärde richte sich vor allem gegen westliche Bürgerinnen und Bürger. Allerdings handle es sich dabei um eine rein politische Aktion, so Horovitz. «Die russische Einschüchterung funktioniert gut, denn kein Mensch weiss, wie man eine solche Atom-Eskalation kontrollieren könnte.»
Sein Kollege Wolfgang Richter, Bundeswehr-Oberst und Militärexperte bei SWP, stimmt dem im «Tagesspiegel» zu: «Jeder Einsatz von Atomwaffen würde das Tabu brechen, das seit 1945 gilt: Atomwaffen dienen nicht der Kriegführung, sondern der Abschreckung. Sie sind ‹politische Waffen›. Ihr Einsatz wäre nur unter extremen Umständen eine denkbare Option, etwa wenn die staatliche Existenz von Atomwaffenstaaten, möglicherweise auch ihrer Verbündeten, auf dem Spiel steht.»
Reaktion der Nato würde zu Eskalation führen
Experte Horovitz ist sich zudem sicher: «Diese Anspielungen Russlands haben nur eine geringe Glaubwürdigkeit», denn bisher sei nicht nur keine nukleare Drohung in die Realität umgesetzt worden, sondern auch keine Vorbereitungen zu beobachten. Der Grund: «Russland weiss, dass die Kosten für einen Atomkrieg zu hoch sind», so Horovitz. Nebst einem weiteren Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft droht auch dem Land selbst Zerstörung, wenn eine Atomwaffe gezündet werden würde.
Dass die Nato im Angesicht der Übung in Kaliningrad seine Bereitschaft steigert, sich in den Krieg in der Ukraine einzumischen, hält Horovitz für unwahrscheinlich. «Wenn die Nato auf diese Drohgebärden reagieren würde, so würde die Situation viel instabiler sein», erklärt der Experte. Bedenklich ist die aktuelle Situation jedoch, da man seit dem Kalten Krieg in den 60er-Jahren keine vergleichbare Situation mehr erlebt hat.