Zusammen mit dem amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich (32) war er einer von 16 Personen, die im Rahmen des grössten Gefangenenaustauschs seit dem Kalten Krieg am 1. August von Russland freigelassen wurden: Kevin Lik (19).
Am späten Abend des 28. Juli sass der 19-Jährige im Hauptbüro der Strafkolonie 14 im äussersten Nordwesten von Russland. Sechs Stunden wartete der 1,90 Meter grosse Lik, der noch 70 Kilo wog, ohne zu wissen, was passieren würde. «Vielleicht bringen sie mich zum Erschiessen», sagte er zum Gouverneur der Kolonie. «Keine Sorge, alles wird gut», kam als Antwort zurück.
Spaziergänge und Pflanzen waren seine Hobbys
Doch darauf konnte sich der Teenager nicht verlassen. Dasselbe habe ihm ein Beamter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB vor anderthalb Jahren gesagt, bevor er eingesperrt wurde, berichtet Lik im Interview mit der BBC.
Der Teenager ist deutsch-russischer Doppelbürger, Mutter Victoria ist Russin, der Vater Deutscher. Kevin wurde 2005 in einer Kleinstadt im Westen von Deutschland geboren und 2023 wegen Hochverrats verhaftet. Mutter und Sohn waren 2017 nach Russland zurückgekehrt, da war Kevin 12 Jahre alt. In seinem neuen Zuhause in Maykop ging er gerne spazieren und interessierte sich für Pflanzen.
Es waren die Präsidentschaftswahlen 2018, die sein Interesse an der Politik weckten. Damals sei seine Mutter, die im Gesundheitswesen arbeitete, nach Hause gekommen und habe erzählt, dass sie und ihre Kolleginnen von Wahllokal zu Wahllokal gefahren wurden. Dort habe man ihnen jeweils eingebläut: «Wählt Putin oder wir nehmen euch eure Boni weg.» Da habe er verstanden, «dass es in Russland so gut wie keine Demokratie gab». Auch dass in fast allen Klassenzimmern ein Portrait von Wladimir Putin (71) hing, missfiel ihm. Den Schülern wurde immer wieder gesagt, dass «die Schule kein Ort für Politik ist».
Die Polizei empfing Victoria auf dem Einberufungsbüro
Ein Jahr darauf tauschte Kevin ein Bild des Kreml-Chefs gegen eines von Oppositionsführers Alexei Nawalny (†47) aus und sorgte für einen Skandal. «Ein Lehrer sagte, dass ich zu Stalins Zeiten erschossen worden wäre», erinnert sich Kevin. Ein anderer, ihm wohlgesinnter Lehrer, riet ihm, vorsichtig zu sein. Seine Mutter wurde in die Schule zitiert und zurechtgewiesen.
Victoria beschloss, dass sie zurück nach Deutschland ziehen sollten. Es war das letzte Schuljahr von Kevin und Russland war in die Ukraine einmarschiert. Doch es sollte alles anders kommen. Victoria wollte, um das Land verlassen können, den Namen ihres Sohnes aus dem Militärregister streichen lassen. Auf dem Einberufungsbüro empfingen sie dann Polizisten, wie die BBC weiter schreibt. Die Mutter wurde für zehn Tage inhaftiert, weil sie angeblich in der Öffentlichkeit geflucht hatte. Alleingelassen traute sich Kevin kaum mehr aus dem Haus. Als er dann doch mal wieder ein paar Schritte ausser Haus machte, hatte er nach seiner Rückkehr bemerkt, «dass Dinge bewegt wurden».
Nach ihrer Freilassung versuchten Mutter und Sohn über den internationalen Flughafen in Sotschi, im Süden von Russland, nach Deutschland zu gelangen. Dabei seien sie von einem Mann mit einer Kapuzenjacke und medizinischer Maske gefilmt worden. Dann fuhr ein Kleinbus vor: «Acht oder neun FSB-Beamte sprangen heraus. Einer packte mich am Arm. Ein anderer kam auf mich zu, zeigte seinen Ausweis und sagte: ‹Gegen Sie wurde ein Strafverfahren nach Artikel 275 eingeleitet: Hochverrat›.» Kevin fiel aus allen Wolken. «Ich dachte über alles nach, konnte aber nicht verstehen, wie ich Verrat begangen haben konnte.»
Der FSB fand ein zerbrochenes Teleskop
Kevin erinnerte sich an den Tiergarten-Mörder Vadim Krasikow, der in Deutschland in Haft sass und fragte sich, ob er vielleicht als Geisel für einen Gefangenenaustausch benutzt werden könnte. Mitarbeiter des Geheimdienstes hätten ihm dann noch Videos von einer Wohnungsdurchsuchung gezeigt, bei der ein zerbrochenes Teleskop gefunden wurde. Die Behörden warfen die Vermutung in den Raum, er habe damit von seinem Fenster in Maykop aus Militärfahrzeuge fotografiert, um die Bilder an den deutschen Geheimdienst zu schicken. Sie nahmen sein Telefon und seinen Laptop mit und fanden Bilder von der Basis, in deren Nachbarschaft sie gewohnt hatten. Kevin beteuerte, Bilder gemacht zu haben, jedoch ohne die Absicht, diese weiterzugeben.
Mit der Situation völlig überfordert und auf Drängen des Anwalts, der ihm zugeteilt wurde, willigte der damals 17-Jährige schliesslich ein, ein vorgefertigtes Geständnis zu unterschreiben. Er habe damit verhindern wollen, dass es «noch schlimmer wird und sie meine Mutter unter Druck setzen». «Es ist ein Schachspiel, es war klar, dass es keine Gerechtigkeit gibt.» Er landete letztlich in einem Gefängnis am Stadtrand von Krasnodar, wo er von anderen Häftlingen brutal «gefesselt und verprügelt» wurde.
Die Reise in die Strafkolonie dauerte einen Monat
Die Behörden ermittelten weiter gegen ihn und eine seiner Klassenlehrerinnen sagte gegen ihn aus. So habe er auf einer Fahrt zu einem akademischen Wettbewerb in Moskau zur deutschen Botschaft gehen und mit Geheimdienstmitarbeitern Kontakt aufnehmen wollen. Kevin relativiert, er habe, weil er 16 geworden war, lediglich einen offiziellen deutschen Ausweis haben wollen.
Zehn Monate nach Kevins Verhaftung, Ende Dezember 2023, wurde er des Verrats für schuldig befunden und zu vier Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Die Reise dorthin nach Archangelsk in Nordrussland dauerte einen Monat und führte über mehrere Gefängnisse.
Am 23. Juli schrieb er auf Befehl eines Gefängnisbeamten eine «dringende Petition» für eine Begnadigung durch den Präsidenten. Am 28. Juli fand er sich im anfangs erwähnten Büro wieder. Einen Tag später wurde er abgeholt. Der Gedankte, er könnte ausgetauscht werden, keimte in ihm, auch wenn ihm nie etwas in diese Richtung gesagt wurde. Im Flieger in die Türkei war ihm dann aber alles klar.
«Will an der Opposition teilnehmen»
In Deutschland konnte Kevin nach einer ärztlichen Untersuchung seine Mutter in die Arme schliessen, die aus Russland eingeflogen war. «Ich habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung ist, dass sie sich keine Sorgen machen muss und dass ich sie sehr liebe.»
Beide leben jetzt in Deutschland und Kevin will unbedingt die Schule abschliessen. Und noch was ist ihm äusserst wichtig. «Ich habe kein Verlangen nach Rache, aber ich habe ein sehr starkes Verlangen, an den Aktivitäten der Opposition teilzunehmen.»