«Die Wahl war emotional – die Türkei ist gespalten»
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Experte Ali Sonay:«Die Wahl war emotional – die Türkei ist gespalten»

Erdogan könnte sich Macht über die Amtszeit hinaus sichern
«Wir werden zusammen sein bis zum Grab»

Erdogan ist wieder zum türkischen Präsidenten gewählt worden. Das hat nicht nur bittere Folgen für die Demokratie im Land, sondern auch für die Beziehungen zum Westen. Eine Analyse.
Publiziert: 29.05.2023 um 13:31 Uhr
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Aktualisiert: 30.05.2023 um 07:55 Uhr
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Recep Tayyip Erdogan ist der neue alte Präsident der Türkei.
Foto: AFP
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Die Türkei hatte die Wahl. Zwischen einem Neuanfang mit Kemal Kilicdaroglu (74) – oder einer Fortsetzung eines quasi autokratischen Regimes unter Recep Tayyip Erdogan (69). Entschieden hat sich das Land für die zweite Option.

Und das, obwohl die türkische Opposition die besten Chancen seit Jahren hatte, das «System Erdogan» zu Fall zu bringen. Sechs Oppositionsparteien hatten sich auf ein umfassendes Reformprogramm und auf einen Präsidentschaftskandidaten geeinigt.

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Die Wirtschaft wurde und wird von Inflation heimgesucht – im vergangenen Jahr waren es über 86 Prozent. Zwei Erdbeben haben 50'000 Menschen getötet und ein Gebiet von der Grösse Bulgariens in Schutt und Asche gelegt. Begünstigt durch schlampige Baumethoden, Korruption und eine verpfuschte Katastrophenhilfe.

So viele Fehler – und trotzdem wieder Präsident

Gereicht hat all das aber nicht, um ihn zu stürzen: Erdogan erhielt 52,14 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu 47,86 Prozent, wie die Wahlbehörde nach Auszählung von 99,43 Prozent der Stimmen mitteilte. Damit wird der Mann, der die türkische Politik seit zwei Jahrzehnten im Alleingang anführt, noch mindestens weitere fünf Jahre an der Macht bleiben. «Mindestens» ist hierbei der Schlüsselbegriff. Während seiner Siegesrede ruft Erdogan in die Runde: «Was habe ich gesagt? Wir werden nicht nur bis Sonntag zusammen sein, sondern bis zum Grab.»

Möglich ist es. Nach Verfassungsänderungen, die Erdogan 2017 durchgesetzt hat, kann ein Präsident in seiner zweiten Amtszeit für eine dritte kandidieren, wenn das Parlament vor dem Ende seiner Amtszeit Neuwahlen ausruft. Da Erdogans Koalition sich bei diesen Wahlen 323 von 600 Sitzen gesichert hat, könnte er sich so ohne Probleme eine weitere Amtszeit sichern – und bis in die 2030er an der Macht bleiben.

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Der Westen bekommt einen zickigen Partner

Die Türken hatten am Sonntag die Wahl zwischen dem autoritär-islamistischen Amtsinhaber und einem kemalistisch-sozialdemokratischen Herausforderer. Dass sie sich am Ende doch wieder für Erdogan entschieden haben, sagt etwas über die Stimmung im Lande und wo die Türkei 2023 steht.

Das sollte man auch im globalen Westen zur Kenntnis nehmen. Während es ein offenes Geheimnis ist, dass Brüssel und Washington auf den Wahlsieg Kilicdaroglus hofften, müssen sie sich nun noch mindestens weitere fünf Jahre mit Erdogan arrangieren. Das könnte schwierig werden. Und trotzdem muss man mit der Türkei weiterhin eine Art Zweckfreundschaft führen.

Denn besonders bei Nato- und Flüchtlingsfragen sowie im Ukraine-Krieg hat sich die Türkei zu einem wichtigen Akteur entwickelt. Hier könnte sich Druck aus dem Westen sogar auszahlen. Schwieriger wird es bei Menschen- und Minderheitsrechten oder einem EU-Beitritt. Denn wenn die Stichwahl wirklich ein Referendum über Erdogan war, dann hat die Türkei sich am Sonntag auch gegen Europa entschieden. Das Land schaut nach Osten, nicht nach Westen. Und der Tiefpunkt der westlich-türkischen Beziehungen ist noch nicht erreicht.

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