Eigentlich hätte alles anders kommen sollen. Zwei Tage vor den türkischen Wahlen am 14. Mai lag der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74) noch vier Prozentpunkte vor dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (69). Damit wäre nach 20 Jahren die «Ära Erdogan» beendet und ein neues Zeitalter eingeläutet worden.
Am Wahlsonntag dann die Überraschung: Nach Angaben der Wahlbehörde entfallen auf Erdogan 49,51 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu kommt auf 44,88 Prozent. Entschieden wurde nichts – keiner der Kandidaten hat über 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler überzeugen können. Diesen Sonntag findet deshalb die Stichwahl statt.
Laut The Spectator Index liegt Erdogan wenige Tage vor der Wahl mit 54 Prozent Zustimmung ganze zehn Prozent vor Herausforderer Kilicdaroglu. Noch ist nichts entschieden. Trotzdem gehen Experten davon aus, dass Erdogan die besseren Karten hat. Das sind die Gründe.
War Kilicdaroglu der falsche Kandidat?
Diese Frage stellt sich die Türkei gerade. Denn: Kilicdaroglu war auch innerhalb seines Bündnisses umstritten, anderen vermeintlich charismatischeren Politikern wurden grössere Chancen eingeräumt. Zudem wird er von der kurdischen Partei HDP explizit unterstützt, was ihn in den Augen vieler Wähler als Kandidat ausschloss.
Und: Die Opposition unter Kilicdaroglu habe einen komplexen Plan gehabt, wie Ali Sonay (38), Türkei-Experte an der Uni Bern, im Gespräch mit Blick erklärt. «Man hat zwar Reformen versprochen, etwa die Rückkehr zu einem parlamentarischen System», so Sonay. «Aber man hat womöglich den Fokus zu sehr auf die Abwahl Erdogans anstelle einer klaren alternativen Vision gelegt.»
Zu viele Köche verderben den Brei
Sechs Parteien haben Kilicdaroglu ihre Unterstützung zugesagt. Was zu Beginn als Zeichen seiner Beliebtheit verstanden werden konnte, ist jetzt eine Last. Sonay erklärt: «All diese Parteien haben unterschiedliche Ansichten.» Das habe das Bündnis zwar diverser, gleichzeitig aber auch unklarer für viele Wähler gemacht. Erdogan und sein Bündnis hingegen haben seit vielen Jahren ein und dasselbe Programm.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier
Zwanzig Jahre lang war Erdogan mit diesem Programm an der Macht. Und es sieht so aus, als würde er es noch fünf weitere Jahre bleiben. 2028 darf er dann laut seinen eigenen Gesetzen nicht mehr antreten. Warum also nach so langer Zeit den Präsidenten wechseln? Das scheinen sich viele Türken zu fragen.
Mehmet Celik, redaktioneller Koordinator der Pro-Erdogan-Zeitung Daily Sabah, sagte gegenüber CNN. «Erdogan konnte 49,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, trotz aller Herausforderungen. Trotz der Tatsache, dass er seit 21 Jahren im Amt ist. Er ist immer noch sehr beliebt.»
Erdogans Nationalismus findet Anklang
Für mehr Fokus auf die türkische und gleichzeitig islamische Nation: Dafür stehen Erdogan und sein Bündnis. Das spricht viele Wähler an, erklärt Experte Sonay. «Viele Wähler sehen in Erdogan eine Art ‹sicheren Hafen›.» Erdogans kämpferischer Nationalismus fand daher bei den Wählern mehr Anklang als Kilicdaroglus Mässigung und Anti-Korruptionskampagne.
Auch an den türkischen Wahlen in der Schweiz äusserten einige Erdogan-Wähler gegenüber Blick diese Überlegung. Abdullah (43) und seine Freunde haben für Erdogan gestimmt. Warum? «Er macht etwas für unser Land. Kilicdaroglu, der hat keine Ahnung von unserem Land. Erdogan hat eine weitere Amtszeit verdient.»
Oppositionsführer wirft eigene Prinzipien über Bord
Nach den nationalen Wahlen am 14. Mai war für Kilicdaroglu klar: Er braucht die Unterstützung von Sinan Ogan (54), dem Drittplatzierten bei den Wahlen. Dafür hat der Oppositionsführer zugestimmt, 13 Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei zu schaffen – wenn er denn am 28. Mai gewinnt.
Damit hat er die Unterstützung der kurdischen HDP und der Grünen verloren. «Dies steht im Widerspruch zu den allgemeinen demokratischen Grundsätzen», schreiben sie am Mittwoch. Das noch viel grössere Problem: Ogan unterstützt ihn auch nicht – sondern den mutmasslichen Wahlsieger Erdogan.