Die umstrittenen politischen Nachwirkungen des Erdbebens von Izmit 1999 leiteten den Aufstieg des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan (69) ein. Als Anfang dieses Jahres ein verheerendes Erdbeben wieder weite Teile des Südostens der Türkei verwüstete, erwarteten viele Beobachter, dass Erdogans Karriere genau so enden würde, wie sie damals angefangen hat – mit einem Erdbeben.
Im Moment scheint Erdogan die politischen und tektonischen Verschiebungen in der Türkei gut zu überstehen. Die erste Runde der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai machte ihn zum Spitzenkandidaten in dem Rennen, das Umfragen zufolge zu seiner Abwahl führen könnte.
Auch wenn noch alles offen ist: Laut Maurus Reinkowski (60), Nahost-Experte an der Uni Basel, dürften auch die Stichwahlen am Sonntag zugunsten von Erdogan und seiner Partei AKP ausfallen. Für den Experten ist klar: «Diese Stichwahlen sind eigentlich ein Geschenk für die AKP.»
Türkisch-westliche Beziehungen unter schlechtem Stern
Denn man hat gewonnen, obwohl alle Zeichen gegen einen standen. «Es wäre quasi ein Zeichen der Stärke für Erdogan und die AKP», so Reinkowski. «Auch der Westen wird diese Haltung zu spüren bekommen – schliesslich hat die türkische Regierung die Abneigung gespürt.»
Und genau das sieht man in der Türkei laut dem Experten als Verrat – und will den Westen dafür abstrafen. «Obwohl die Türkei und der Westen voneinander abhängig sind: Die Beziehungen werden immer volatiler und schwieriger.»
Erdogans Instinkt wird wohl darin bestehen, die Türkei weiter in Richtung Neutralismus zu treiben, ohne die Nato zu verlassen. Zudem dürfte Erdogan seine Beziehungen gegen Osten ausweiten und verstärken, eine Versöhnung mit dem Westen vorerst aber nicht wollen. Insgesamt zieht Reinkowski das nüchterne Fazit: «Aussenpolitisch wird alles bleiben, wie es ist – nur auf viel wackligeren Beinen.»
Erdogan steht vor wirtschaftlichem Scherbenhaufen
Ein kompletter Bruch ist nicht zu erwarten: Der Westen ist nach wie vor der grösste Exportmarkt der Türkei und die wichtigste Quelle für ausländische Direktinvestitionen; diese Tatsache könnte Erdogans pragmatische Seite zum Vorschein bringen.
Denn die taumelnde Wirtschaft der Türkei ist bei einer Wiederwahl eines der grössten Probleme Erdogans. Sie wuchs im Jahr 2022 laut der Weltbank um 5,6 Prozent gegenüber 11,4 Prozent im Vorjahr. «So schlecht stand es um die Wirtschaft des Landes das letzte Mal, bevor die AKP an die Macht kam», meint Reinkowski.
Wähler bleiben ihrem Präsidenten treu
Trotz aller natürlichen, politischen und wirtschaftlichen Katastrophen, die das Land unter Erdogan durchmachen musste, hält die Wählerschaft weiter an ihrem Machthaber fest. Denn Erdogan ist ein charismatischer, begnadeter Wahlkämpfer, den die Massen bei Kundgebungen lieben. Er lebt von Kulturkriegen und spaltender, polarisierender, auf Angst basierender Rhetorik, die ihm stets geholfen hat, seine Wählerbasis zu festigen und zu mobilisieren.
Laut Reinkowski verschwindet diese beinahe unerschütterliche AKP-Loyalität der Türken auch nach den Wahlen nicht einfach. Selbst wenn der Westen es erwartet: Das «System Erdogan» wird nicht implodieren.