Am Sonntag wählt die Türkei. Die Wahlen fallen auch mit dem 100-jährigen Jubiläum der Gründung der säkularen Regierung der Türkei zusammen. Das britische Magazin «The Economist» bezeichnet die Wahlen deshalb gar als «die wichtigsten Wahlen der Welt 2023».
Nach mehr als 20 Jahren droht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (69) am Sonntag die Abwahl. Und das ausgerechnet wegen des sanftmütigen Bürokraten und ehemaligen Buchhalters Kemal Kilicdaroglu (74), der die Oppositionspartei CHP führt.
Laut Nahost-Experte Maurus Reinkowski (60) geht es um die türkische Demokratie als Ganzes. Während Erdogan die Türkei immer mehr in einen Staat mit autokratischen Zügen verwandelt hat, könnte Kilicdaroglu der Retter der türkischen Demokratie sein. «Kilicdaroglu wird der Demokratie in der Türkei wieder zum Leben verhelfen», sagt er zu Blick.
Die Wahlen am Sonntag würden vor allem eine Frage beantworten: «Ist es in einem Staat mit autokratischen Zügen tatsächlich noch möglich, dass die Opposition durch Wahlen die Macht übernehmen kann?»
Gute Chancen für Kilicdaroglu
Zahlen von «Politico» zeigen: Kilicdaroglu hat gute Chancen. Sechs türkische Parteien unterstützen ihn. Neueste Umfragen zeigen: 50 Prozent der Türken wollen ihn als nächsten Präsidenten ihres Landes sehen. Erdogan dümpelt bei 46 Prozent.
Kilicdaroglu gilt auch im Westen als Hoffnungsträger. Denn Europa und die USA hoffen, dass er einen tiefgreifenden Wandel in der Innen- und Aussenpolitik des Landes bringen wird.
Wandel kommt – aber langsam und schleichend
Damit steht Kilicdaroglu aber vor einer Herkulesaufgabe. Denn in 20 Jahren an der Macht hat Erdogan viel verändert – und wenig zum Guten. Erdogans Erbe bleibt weiter bestehen. Das meint Savas Genc (49), Türkei-Experte an der Uni Heidelberg, zu Blick. Die Türkei hat sich zunehmend von der EU isoliert, der türkischen Wirtschaft geht es «so schlecht wie nie». Solche Entwicklungen rückgängig zu machen, brauche Zeit.
Auch der Basler Experte Reinkowski relativiert Erwartungen an Kilicdaroglu: «Er kann zwar Reformen, die Erdogan etabliert hat, wieder rückgängig machen.» Man solle sich aber keiner Illusion hingeben: «Die Türkei wird auch unter ihm ihre Politik nicht komplett auf den Kopf stellen.»
Bricht Kilicdaroglu mit Russland?
Denn Kilicdaroglu glänzt zwar innenpolitisch mit Expertise, aussenpolitisch ist er aber ein unbeschriebenes Blatt. Daher vermuten Genc und Reinkowski, dass auch Kilicdaroglu die von Erdogan praktizierte Russland-Politik der Türkei weiterverfolgen könnte.
Die Türkei und Russland verbindet schliesslich eine enge wirtschaftliche Beziehung. 2022 wurden zwischen den beiden Ländern Waren im Wert von 62 Milliarden US-Dollar gehandelt. Aus beziehungsweise nach Deutschland – der zweitwichtigste Handelspartner der Türkei – im- und exportierte das Land am Bosporus im gleichen Zeitraum dagegen nur ein Volumen von 40,9 Milliarden US-Dollar.
Dank des Ukraine-Krieges hat das Land zudem international an Gewicht gewonnen, gerade weil es noch einen mehr oder weniger funktionierenden Draht nach Russland hat. Etwas, das laut Genc und Reinkowski auch Kilicaroglu nicht leichtfertig aufs Spiel setzen wird.