Rockstar? Das war nie das Ziel von Kemal Kilicdaroglu (74). Seine ersten Groschen hatte er als Schulbub in den Ziegelbrennereien Ostanatoliens verdient, den grössten Teil seiner Karriere in den Beamtenstuben der türkischen Sozialversicherungsanstalt zugebracht, sich nebenher in der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) bis zum Parteivorsitz hochgekrampft. Wenig glamourös, das Ganze. Und vielleicht genau deshalb goldrichtig, um den politischen Sumpf trockenzulegen, in dem die Türkei nach 20 Jahren unter Recep Tayyip Erdogan (69) feststeckt.
So jedenfalls sehen es die rund 500'000 Fans, die an diesem sonnigen Frühlingsnachmittag dicht gedrängt an der Promenade der türkischen Küstenstadt Izmir stehen.
Sie jubeln frenetisch, als vorne auf der Bühne ein kleiner Mann mit Glatze und ein paar Notizzetteln in der Hand erscheint. Ihren «Onkel» feiern die Anhänger Kilicdaroglus – eben – wie einen Rockstar.
Kilicdaroglu liegt in Umfragen deutlich vor Erdogan
«Wir werden ihn aus seinem Palast werfen», ruft «Onkel Kemal» ins Mikrofon. Eine Million Hände gehen in die Höhe, aus 500'000 Kehlen dröhnt lauter Jubel über die rot beflaggte Promenade. Selbst die sonst stoisch über der Stadt kreisenden Möwen fliegen verschreckt aufs Meer hinaus.
Der türkische Wahlkampf hat etwas Bedrohliches, nicht nur für die Möwen. Laut ist er, untermalt von martialischer Musik, gefeiert von Menschenmassen, wie es sie hierzulande nur an der Zürcher Street Parade gibt.
So hart umkämpft wie dieses Jahr waren die Präsidentschaftswahlen in der Türkei noch nie. Zum ersten Mal, seit Erdogan 2003 an die Macht gelangte, hat ein Oppositionskandidat ernsthafte Chancen, den zunehmend autoritär regierenden türkischen Herrscher aus dem Amt zu vertreiben. Kilicdaroglu liegt in den Umfragen mehrere Prozentpunkte vor Erdogan.
Grund dafür ist der überraschende Schulterschluss der zerstrittenen türkischen Opposition. Sechs Parteien haben sich geschlossen hinter Kilicdaroglu gestellt: ein bunter Politmix von weit links bis extrem rechts mit dem einzigen gemeinsamen Ziel, Erdogan rauszuwerfen und das seit 2017 geltende antidemokratische Präsidialsystem abzuschaffen.
Erdogans LGBTQ-Vorwurf
Zunehmend gehässig reagiert Erdogan auf die politische Bedrohung. Doch die fast komplette Kontrolle über die türkischen Medien (die Kilicdaroglus Monster-Rallye von Izmir fälschlicherweise als «CHP-Meeting» vermelden und kein einziges Bild der jubelnden Menschenmenge zeigen) und die Verhaftung von Zehntausenden oppositionellen Politikern, Richterinnen und Journalisten scheinen diesmal nicht zu reichen, um seine Gegner mundtot zu machen.
Deshalb leiert Erdogans Innenminister neuerdings die Mär herunter, der Westen plane bei den Wahlen am 14. Mai einen Putschversuch. Erdogan selbst poltert seit ein paar Tagen, Kilicdaroglus Bündnis sei ein familienfeindlicher LGBTQ-Verein. Der Präsident selbst lässt an seinen Wahlkampfständen Schulhefte verteilen, in denen Kinder vorgezeichnete türkische Bayraktar-Drohnen, neu gebaute Moscheen und andere Erdogan-Errungenschaften ausmalen können.
Kilicdaroglus Milliarden-Versprechen
Kilicdaroglu verzichtet auf solche populistischen Massnahmen. Stattdessen verspricht er der Türkei auf seinen Wahlplakaten einen «neuen Frühling». Gerechtigkeit werde kein Fremdwort mehr sein, und politische Gefangene würden aus den Kerkern entlassen.
Ihm glaubt man das: 2017 marschierte er aus Protest gegen die Inhaftierung eines Verbündeten 420 Kilometer von Ankara nach Istanbul. Zehntausende folgten ihm auf der 25-tägigen Tour, die ihm den Spitznamen «Gandhi» einbrachte.
Ganz so bescheiden wie der indische Führer aber wirkt Kilicdaroglu dann doch nicht. «300 Milliarden an ausländischen Investitionen werden kommen», verkündet er vor dem jubelnden Volk in Izmir. Dazu müsse man nur die Inflation in den Griff bekommen (die hat in der Türkei 2022 satte 85,5 Prozent erreicht). Kilicdaroglu allein aber wird das System nicht wieder geradebiegen können. Um die Wirtschaftspolitik umzukrempeln und Erdogans sultaneskes Präsidialsystem abzuschaffen, bräuchte er zu einem Wahlsieg hinzu auch die alles andere als sichere Mehrheit im Parlament.
Nichtsdestotrotz: Sein Auftritt lässt die Erdogan-Müden unter den 60 Millionen wahlberechtigten Türkinnen und Türken träumen. «Er ist einer von uns, er denkt wie wir. Er ist der Richtige für die Zukunft unserer Kinder», sagt Fatmar (48) am Rand der Rallye in Izmir. «Seine Regierung wird die vier Millionen Flüchtlinge in unserem Land wegschicken, damit sie uns Türken nicht mehr die Jobs wegnehmen», hofft Yasin (17). «Wenn Erdogan jetzt nicht geht, wird unser Land endgültig zur Diktatur», ruft Fikret (64).
Erdogans Sieg liegt in Gottes Händen
Ganz anders tönte es in Izmir tags zuvor, als Erdogan – vor nicht einmal halb so vielen Menschen – sein Wahlkampf-Comeback nach einer krankheitsbedingten Zwangspause gab. «Ich weiss noch, wie wir in den 1980ern lange Schlange stehen mussten, um Speiseöl und Benzin zu kaufen. Heute gehts uns allen gut», sagt Muhliz (70).
«An der Inflation ist die Pandemie schuld. Und unser Land wird von Putschisten und den Amerikanern destabilisiert», schimpft Mujahid (60). Wer gewinnen werde, liege jetzt in Gottes Hand. Sein Wille, sagt der Mann mit den schneeweissen Haaren, werde geschehen.
Ob Erdogan Gottes Willen akzeptiert, falls Gott dann doch nicht will, was er sich wünscht: Das wissen wir spätestens nach dem zweiten Wahlgang am 28. Mai.