Türken in der Schweiz dürfen heute wählen
«Erdogan ist ein Diktator und er muss weg»

Am 14. Mai wählen die Türken ihren Präsidenten und das Parlament. Beim Wahllokal in Zürich herrscht am Samstag trotz zahlreichen Leuten eine entspannten Stimmung. Blick hat mit Fans und Gegnern vom amtierenden Präsidenten Erdogan gesprochen.
Publiziert: 29.04.2023 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2023 um 11:57 Uhr
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Umut (33) findet: «Ich bin eigentlich kein politischer Mensch. Aber Erdogan ist ein Diktator und er muss weg.»
Foto: Chiara Schlenz

2014 kam er ins Amt, zweimal wurde er wiedergewählt. Nun, nach zehn Jahren an der Spitze, könnte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (69) die Abwahl drohen. In der Türkei wird am 14. Mai gewählt, in Deutschland und in der Schweiz können türkische Staatsbürgerinnen und -bürger dies schon Ende April tun.

Das Resultat dürfte knapp werden – für Erdogan, aber auch für seinen Kontrahenten Kemal Kilicdaroglu (74). Daher zählt jede Stimme der rund 64 Millionen Wahlberechtigten, von denen rund 100'000 in der Schweiz leben. Es wird erwartet, dass am Samstag und Sonntag ein Grossteil der in der Schweiz lebenden Türken abstimmen gehen. Aus diesem Grund ist das Wahllokal vom Generalkonsulat in die Räumlichkeiten der «Messe Zürich» verlegt worden.

«Erdogan macht etwas für unser Land»

Ein Blick vor Ort zeigt: Kurz vor 9 Uhr haben sich schon Dutzende Menschen vor den Hallen versammelt. Ein Mann namens Eran* sagt gegenüber Blick, dass er für Erdogan stimmen wird. «Es gibt keinen besseren. Es wird entweder Erdogan – oder niemand.»

Auch Abdullah (43) und seine Freunde haben für Erdogan gestimmt. Warum? «Er macht etwas für unser Land. Der Gegner Kilicdaroglu, der hat keine Ahnung von unserem Land. Erdogan hat eine weitere Amtszeit verdient.»

«Alten wollen nicht aus Fehlern der Vergangenheit lernen»

Der Kurde S.D.* (23) wählt dagegen die prokurdische Grüne Linke Partei YSP. «Es muss sich etwas ändern», sagt er zu Blick. Der Mann hofft dadurch auf Besserungen in seiner Heimat. Aber ob es realistisch ist, dass Erdogan gehen muss? Das wisse er nicht. «Die Alten wollen einfach nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.»

Umut (33) findet: «Ich bin eigentlich kein politischer Mensch. Aber Erdogan ist ein Diktator und er muss weg. Meine Familie und ich waren hier, um für die Demokratie zu stimmen.»

Sie könnten mit ihrer Meinung in Zürich der Minderheit angehören. Ein erster Eindruck zeigt: Die Ansichten der Türken vor Ort scheinen eher konservativ zu sein. Das bestätigt auch ein Wahlbeobachter gegenüber Blick: «Viele wollen einfach, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind.»

5000 Neuregistrierungen in diesem Jahr

Auch Nesle (28) und Tolga (30) befürchten, dass der von ihnen gewählte Kemal Kilicdaroglu trotzdem nicht der neue Präsident der Türkei wird. «Ich hoffe, dass es zu einem Machtwechsel kommt. Die Ereignisse der letzten Monate – insbesondere das Erdbeben – haben den Leuten die Augen geöffnet. Aber man kann nicht darauf vertrauen, weil nicht alles transparent abläuft», sagt die 28-Jährige.

Ihr Begleiter kennt viele Leute in seinem Umfeld, die politisch anders ausgerichtet sind als er. «Sie sind von der aktuellen Regierung überzeugt und würden sie auch wieder wählen. Was ich traurig finde, ist, dass es studierte Leute sind. Durch die mit Vorurteilen behafteten Medien, die sie konsumieren, stimmen sie aber trotzdem dafür, was nicht demokratisch ist, ab.»

Beritan ist Wahlhelferin und Mitglied einer kurdischen Partei. Sie hat die Hoffnung noch nicht aufgeben. Ihren Angaben zufolge habe es für diese Wahlen 5000 Neuregistrierungen gegeben, 3000 alleine in Zürich. «Man merkt, dass es ums Ganze geht, dass diese Wahl wichtig ist», sagt sie zu Blick.

Manipulationsversuche von Erdogan-Anhängern im Vorfeld vereitelt

Der Ablauf läuft äusserst ordentlich ab, die Stimmung ist ruhig. Auch im Wahllokal drin, wie der 41-jährige Oktar Ö. gegenüber Blick bestätigt: «Wir standen seit 8.45 Uhr an, haben bestimmt eine Stunde warten müssen.» Während die Wartezeiten vor dem Gebäude etwas mühsam waren, ging es an den Urnen schnell. «Alle waren sehr freundlich, es lief super glatt. Es stehen sehr viele Urnen parat, damit möglichst viele Menschen abstimmen können.»

Im Vorfeld haben die Verantwortlichen nicht nur mit einem riesigen Andrang, sondern auch mit chaotischen Zuständen gerechnet. Denn gereizte Stimmung herrschte schon vergangenen Sonntag bei der Botschaft in Bern. «Ich musste mich – mit vielen andern – neu registrieren, weil wir aus unbekannten Gründen von der Liste der Wahlberechtigten entfernt worden waren», sagt Aslan S.*, ein langjähriger Wahlbeobachter und Erdogan-Kritiker zu Blick.

Die meisten der Leute, die stundenlang vor der Botschaft anstanden, seien Erdogan-Kritiker gewesen. Aslan S.: «Ich vermute, dass wir mit Absicht rausgeschmissen worden sind.» Die Botschaft dementiert diese Vorwürfe gegenüber Blick. «Das hat damit zu tun, dass diese Personen ihre Adresse geändert haben.»

«Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand»

«Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand. Für ihn wird jede Stimme zählen. Das merkt man daran, wie sehr uns die Abstimmung erschwert wird», sagt der Wahlbeobachter. Die Menschen hätten sich nicht online registrieren können, sondern mussten es vor Ort tun. Er sei dennoch der Überzeugung, dass die ausländischen Stimmen, vor allem aus der Schweiz, einen Unterschied machen würden. «Wir haben hier eine grosse kurdische Community – und das sind die Stimmen, die das Blatt wenden könnten.»

In Deutschland kam es vergangene Woche bereits zu Manipulationsversuchen. Wie unter anderem die Frankfurter Rundschau berichtete, versuchten in Frankfurt am Main Anhänger des AKP- und MHP-Blocks, ihre Stimme zweimal abzugeben. Sie wurden allerdings erwischt und die Betrugsversuche konnten vereitelt werden.

Erdogan tritt im Wahlbündnis «Volksallianz» mit seiner islamisch-konservativen AKP, der ultranationalistischen MHP, der nationalistisch-religiösen BBP sowie der islamistischen YRP an. Ein Teil der Opposition hat sich zum Bündnis «Sechser-Tisch» zusammengeschlossen, das von der grössten Oppositionspartei, der CHP, angeführt wird. Mit dieser Koalition tritt Kilicdaroglu an. Die pro-kurdische Oppositionspartei HDP verzichtet auf einen eigenen Kandidaten und stärkt damit das Oppositionsbündnis.

* Name bekannt

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