Noch immer erschüttern Erdstösse den Südosten der Türkei, zum Teil mit Stärken bis zu 6 auf der Richterskala. 8850 Nachbeben wurden seit den zwei grossen Erdbeben am 6. Februar 2023 gemessen. Die Zahl der Toten liegt bei über 49'000, rund 4000 davon in Syrien. Bislang kollabierten 164'321 Gebäude, gibt die türkische Regierung bekannt. 13 Millionen Menschen sind von der Katastrophe betroffen. Jeder Zehnte davon ist obdachlos. Es fehlt an allem: Zelte, Wasser, Heizung, Strom. Seuchen drohen. Der materielle Schaden beläuft sich, laut Unternehmerverband TÜRKONFED, auf 84 Milliarden US-Dollar.
Kaum noch Medienmeldungen von Wundern und Heldentaten lenken vom Elend ab. Auch Besuche des Präsidenten im Erdbebengebiet trösten nicht wirklich. Ein Jahr würde der Wiederaufbau dauern, verspricht Recep Tayyip Erdogan (69). Zur gleichen Zeit wächst Kritik am zögerlichen Krisenmanagement der Regierung, an der staatlichen Korruption, am von Behörden abgesegneten Baupfusch sowie an den zweckentfremdeten Einnahmen der Erdbebensteuer. Die Stimmung droht zu kippen.
Erdogans Umfragewerte sinken
Für Erdogan ist es keine gute Zeit für Wahlen. Sie sollen am 14. Mai stattfinden. Die Missstimmung nach den Beben gefährdet die Wiederwahl des Präsidenten und seiner AKP-Partei. «Laut aktuellen Umfragen sinkt die Unterstützung in der türkischen Bevölkerung für die Regierung. Die Lage wird brenzlig für Recep Tayyip Erdogan», sagt Türkei-Experte Burak Copur (45) zu Blick.«Er muss jetzt auf Zeit spielen». Daher werde der Präsident versuchen, die Wahlen um ein Jahr zu verschieben. Davon ist der Essener Politikwissenschaftler überzeugt. Er glaubt an eine perfide List.
Zunächst habe Erdogan einen Vertrauten seinen Plan öffentlich erklären lassen. So forderte der einstige Vizepremier und AKP-Gründungsmitglied Bülent Arinc (74), die Wahlen erst in 2024 zu erlauben, da in den Bebengebieten die Infrastruktur erst wieder aufgebaut werden müsse. Das aber gehe rechtlich gar nicht, sagt Burak Copur (46), Politikwissenschaftler, «die türkische Verfassung sieht eine Verschiebung der Parlamentswahlen nur im Kriegsfall vor». So stiess die Idee dann auch auf heftigen Widerstand, vor allem bei der grössten Oppositionspartei CHP. Deren Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu (74) verglich das Vorhaben mit einem Putsch.
Erdbeben in der Türkei und in Syrien
Hoher Wahlausschuss könnte Wahlverschiebung bestimmen
Offen eine Verschiebung der Wahlen vorzuschlagen, hätte als Schwäche Erdogans ausgelegt werden können. «Daher beeilte sich die AKP, offiziell am festgelegten Wahltermin festzuhalten», sagt Burak Copur, «gleichzeitig könnte Erdogan nun den Hohen Wahlausschuss (YSK) instrumentalisieren und ihn eine Wahlverschiebung bestimmen lassen».
Die höchste Wahlbehörde des Landes hatte schon im Mai 2019 auf Antrag der Regierung das Ergebnis der Kommunalwahlen in Istanbul annulliert, bei der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu (52) das Bürgermeisteramt erhielt. Der charismatische Politiker wurde allerdings auch bei der Wahlwiederholung gewählt und gilt jetzt, trotz eines drohenden Politikverbots seitens des Erdogan-Regimes als aussichtsreicher Gegenkandidat für die Präsidentschaft.
Den Autokraten Erdogan hält Burak Copur dennoch nicht für allmächtig. «Ein breiter Widerstand kündigt sich bereits an. Beispielsweise haben 61 Anwälte Erdogan wegen Totschlags an den Bebenopfern angezeigt. Nur an einer geschlossenen Opposition, einer starken Gesellschaft und solchen mutigen Juristen könnte die Strategie Erdogans endgültig scheitern», sagt der Türkei-Experte.