Erst Schockstarre. Dann Verzweiflung und Trauer, gemischt mit Hoffnung. Schliesslich blinde Wut. Eine Woche nach den schweren Erdbeben und Nachbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens kippt die Stimmung im Katastrophengebiet. Es werden kaum noch Überlebende aus den Trümmern gezogen. Die Menschen drohen bei Minusgraden zu erfrieren. Sie hungern, haben Durst.
Es gibt vielerorts keinen Strom, kein Internet. Die Toten werden vor den Spitälern gestapelt, weil Friedhöfe überfüllt sind. Verwundete sind nur schlecht erstversorgt, mahnt die türkische Ärztekammer TTB. Es fehlen Krankenhäuser, Ärzte, Medikamente. Verwesende Leichen und im offenen Gelände verrichtete Notdurft verunreinigen das Grundwasser. Es drohen Seuchen. Das alles zerrt an blank liegenden Nerven.
Aus Sicherheitsgründen unterbrachen die Rettungsteams des deutschen Technischen Hilfswerks (THW) und der Hilfsorganisation I.S.A.R Germany am Samstag ihren Einsatz in der Region Hatay. Zu gefährlich sei die Situation vor Ort, hiess es vom THW, «es gibt zunehmend Berichte über Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppierungen, auch Schüsse sollen gefallen sein». Steven Bayer, Einsatzleiter von I.S.A.R Germany, fürchtet eine Eskalation der Gewalt mit anhaltender Lebensmittelknappheit und mangelnder Wasserversorgung.
Präsident Erdogan will Stärke zeigen
Recep Tayyip Erdogan (68) reagiert mit harter Hand. Der Präsident beeilt sich, Plünderer und gewissenlose Baulöwen zu jagen. Er liess in der Südtürkei 14 Menschen wegen Baupfusch festnehmen. Gegen 33 weitere Menschen wurde Haftbefehl erlassen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Zudem wurden 48 Plünderer geschnappt. Im Mai wird gewählt. Das Beben könnte auch Erdogans Imperium erschüttern.
Eine Woche nach dem schweren Erdbeben ist das Ausmass der Katastrophe noch nicht abschätzbar. Flächenmässig ist das Erdbebengebiet dreimal so gross wie die Schweiz. Bislang wurden rund 35'000 Tote geborgen, davon rund 30'000 in der Türkei. Doch die Uno rechnet noch mit viel mehr Opfern.
13,5 Millionen Menschen in der Türkei seien direkt von den Folgen des Bebens betroffen, sagt der türkische Minister für Umwelt und Stadtplanung, Murat Kurum (46). Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen in Syrien von fünf Millionen Obdachlosen aus.
Erdbeben in der Türkei und in Syrien
Mit Erdbebensteuer Staatsschulden getilgt
Zu spät habe Erdogan den Ernst der Lage erkannt, sagt Erdbebenexperte Ismail Büyükay gegenüber der «Frankfurter Rundschau», «das Ausmass der Zerstörung hätte in den ersten Stunden festgelegt werden müssen. Erst einen Tag nach dem Beben wurde Hilfe aus dem Ausland gerufen». Durch die verspätete Rettung seien viele Menschenleben verloren gegangen.
Noch eine bohrende Frage wühlt die Gemüter auf: Mussten viele Tausend Menschen sterben, weil der gesetzliche Gebäudeschutz fahrlässig ignoriert wurde? Seit dem letzten grossen Beben im Westen der Türkei im Jahr 1999 wird eine Erdbebensteuer von 7,5 Prozent auf Mobiltelefonie erhoben. 37 Milliarden US-Dollar soll der Staat eingenommen haben. Geld, das offenbar nicht in bauliche Massnahmen floss.
Hauptverantwortlicher für das Ausmass der Katastrophe sei Erdogan, twittert CHP-Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (74), «der Präsident hat es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten». In einem Video aus dem Jahre 2011 erklärt der damalige Finanzminister, Mehmet Simsek (56): «Das Geld wird für Gesundheit, Strassen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft, für die Bildung und für die Tilgung der Schulden beim Internationalen Währungsfonds ausgegeben.» Von Erdbebensicherheit kein Wort.