Kemal Kilicdaroglu (74) hat sich wohl nicht denken können, was er mit seinem dreiminütigen Twitter-Video mit dem Titel «Ich bin Alevit» auslösen würde. Der Oppositionskandidat, der bei den türkischen Wahlen am 14. Mai Recep Tayyip Erdogans (69) gut 20-jährige Regentschaft beenden will, sitzt an einem mit Büchern überstellten Schreibtisch, hinter sich im Regal Plastiksäcke und noch immer in Folien verpackte Wälzer. Schlecht ausgelichtet ist das Video auch. Kurzum: Es wirkt reichlich improvisiert, was der Chef der sozialdemokratischen Partei CHP da macht.
Trotzdem: Kilicdaroglus Video verzeichnet bereits mehr als 33 Millionen Views. Kein anderes Polit-Video hat es in der Türkei je zu so viel Verbreitung geschafft. Und kaum eine politische Botschaft wurde in jüngster Zeit so kontrovers diskutiert.
Kilicdaroglu im Erdbebengebiet ausgebuht
Kilicdaroglu, der mit seinem Bündnis aus sechs Oppositionsparteien laut jüngsten Umfragen realistische Chancen auf den Wahlsieg im Mai hat, thematisiert im Video seine alevitische Identität. Die Aleviten sind eine muslimische Glaubensgemeinschaft in der Türkei, deren Traditionen stark von den dominierenden Sunniten abweichen. So haben sie etwa keine Moscheen und fasten nicht während des Ramadans: einer der Gründe, warum Kilicdaroglu beim Besuch des Erdbebengebietes in der Ost-Türkei während des Fastenbrechen-Festes Eid al-Fitr ausgebuht worden ist.
«Ich bin Alevit», sagt Kilicdaroglu im Video. «Unsere Identitäten können wir nicht wählen. Andere wichtige Dinge im Leben aber schon. Zum Beispiel, wer uns regiert oder ob wir ein besseres Leben in einer freien und florierenden Gesellschaft führen wollen.»
Klares Signal an die kurdische Minderheit
Das ist eine klare Botschaft auch an die kurdische Minderheit in der Türkei, deren Partei nicht mitmacht beim Oppositionsbündnis. Gerade auf deren Stimmen ist der Anti-Erdogan-Mann Kilicdaroglu aber angewiesen, wenn er die Überraschung tatsächlich schaffen will.
Im ersten Wahlgang am 14. Mai müsste einer der beiden Männer das absolute Mehr von mindestens 50 Prozent der Stimmen holen, um gewählt zu werden. Das dürften Kilicdaroglu und Erdogan beide knapp verpassen, weil mehrere Splitterparteien ebenfalls Stimmen machen werden. Entscheidend sind die Wochen bis zum zweiten Wahlgang am 28. Mai, bei dem nur noch Erdogan und Kilicdaroglu im Rennen verbleiben werden. Gut möglich, dass der Hype um das «Aleviten»-Video bis dahin längst verpufft sein wird.