Recep Tayyip Erdogan (69) will am 14. Mai das 21. Jahr seiner Macht einläuten. Umfragen zufolge muss er aber um seine Wiederwahl fürchten. Als Gegner steigt Kemal Kilicdaroglu (74) in den Ring, langjähriger Oppositioneller und Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei CHP.
«Unser grösstes Ziel ist es, der Türkei friedliche und freudige Tage zu bereiten. Mit Gottes Hilfe werden wir das alle gemeinsam durchstehen», sagte Kilicdaroglu nach der Verkündung seiner Kandidatur. Politikwissenschaftler sind überzeugt, dass Kilicdaroglu Wählerinnen und Wähler aus allen Lagern ansprechen könne.
Der Anti-Erdogan
Beinahe so lange wie Erdogan an der Macht ist, gilt Kilicdaroglu als Hoffnungsträger. Ihm ist es gelungen, die Opposition zu vereinen. Vor fünf Jahren organisierte er einen dreiwöchigen, 400 Kilometer langen «Gerechtigkeitsmarsch» von Ankara nach Istanbul. Damit gewann er nicht nur an Beliebtheit, sondern auch den bedeutungsschwangeren Spitznamen «Mahatma Gandhi der Türkei».
In all den Jahren, in denen Kilicdaroglu im Licht der Öffentlichkeit stand, wurde er nie mit Skandalen in Verbindung gebracht, was in der Türkei viel zählt. Als Kind einer armen, alevitischen Familie ist er den Menschen zudem viel näher als Erdogan mit seinem Prunk und Protz.
Auch in anderen Angelegenheiten stellt Kilicdaroglu einen krassen Gegensatz zu Erdogan dar. Er befürwortet eine türkische EU-Mitgliedschaft und spricht sich aktiv gegen Korruption und Vetterliwirtschaft aus. Seine ruhige Art – noch ein Kontrast zu seinem aggressiven Konkurrenten – könnte ihm im Wahlkampf Vorteile verschaffen. Der Wunsch der türkischen Gesellschaft nach einer Alternative wird immer klarer. Sie braucht vor allem nach dem Erdbeben und in der Wirtschaftskrise jemanden, der verständnis- und hoffnungsvoll ist. Jemand, der die Menschen versteht, ihnen zur Seite steht.
Erdogan und das Erdbeben
Die Schattenseiten
Doch nicht für alle Erdogan-Gegner ist Kilicdaroglu der Mann, der den aktuellen Präsidenten bezwingen kann. Noch nie hat er eine Wahl auf nationaler Ebene gewonnen, er ist wenig charismatisch und drohte die Sechs-Parteien-Koalition zu spalten.
Mit der Nominierung Kilicdaroglus geht eine Phase der monatelangen Uneinigkeit der Koalitionsparteien zu Ende. Zuletzt führte der Politthriller zur Abspaltung von Meral Aksener (66) und der zweitgrössten Oppositionspartei von der Allianz der Erdogan-Gegner. Sie schlug Ekrem Imamoglu (52) und Mansur Yavas (67), die jeweiligen Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara, als Alternativen vor. Kilicdaroglu als Kandidat würde ihrer Meinung nach dazu führen, dass die Opposition die Wahl verlieren würde.
Am Montag kam die Partei Iyi Parti («Die Guten») wieder zurück – unter der Bedingung, dass Imamoglu und Yavas als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft gestellt werden.
Bewährungsprobe für Erdogan
Ob der Streit dem Bündnis geschadet hat, ist noch nicht klar, schreibt «Welt». Beobachter befürchten, dass die Uneinigkeit der Sechs-Parteien-Oppositionsgruppe Erdogan nur nützen wird. Seit Monaten hatte Erdogan in Umfragen Boden wettmachen können – auch wenn seine Zustimmungsraten erheblich niedriger sind als auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Und noch liegen die Umfragewerte der CHP unter derjenigen der Erdogan-Partei AKP. Einschüchtern lässt sich Sozialdemokrat Kilicdaroglu nicht. Vor wenigen Wochen prophezeite er Erdogans politischen Untergang und den Aufgang seiner eigenen Ära. «Ich will Ihnen eine Tatsache sagen, die er nicht leugnen kann: Tyrannen gehen am Ende immer.»