Die Vorwürfe gegen Recep Tayyip Erdogan (68) nach den verheerenden Erdbeben sind heftig. Der türkische Präsident soll Warnungen von Geologen in den Wind geschlagen und die Katastrophenhilfe viel zu spät aufgegleist haben.
Zudem wird seiner Regierung vorgeworfen, dass ein Teil der Erdbebensteuer von angeblich mehreren Dutzend Milliarden Dollar nicht für die Sicherung von Gebäuden, sondern für den Schuldenabbau, Strassen, Bahnen, die Luftfahrt, die Landwirtschaft und die Gesundheit verwendet worden sei.
Erdogan lässt sämtliche Kritik abblitzen. Es sei nicht möglich, auf ein solches Desaster vorbereitet zu sein, sagte er bei einem Besuch in Kahramanmaras. «Wir haben alle unsere Ressourcen mobilisiert. Unsere Bürger sollten sich keine Sorgen machen.»
Opposition kritisiert Erdogan
Ob der schweren Anschuldigungen wittert die Opposition ihre Chance. Denn am 14. Mai sind in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – sofern sie wegen des Erdbebens nicht verschoben werden. Auch Kemal Kilicdaroglu (74), Präsident der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, besuchte ein Katastrophengebiet, nämlich die Provinz Hatay.
Dabei griff er Erdogan frontal an. Er fragte: «Wo ist dieses Geld?» Die Türken, die dem Staat ein ganzes Leben lang Steuern bezahlt hätten, sähen nichts von diesem Staat, den sie nun brauchten. Kilicdaroglus Urteil über Erdogan: «Wir sind an diesem Punkt wegen seiner Politik.»
Erdogan dürfte profitieren
Doch die Opposition dürfte sich vermutlich vergebens freuen. Das jedenfalls meint Maurus Reinkowski (60), Professor für Nahoststudien an der Uni Basel. «Nach der aktuellen Lage ist eher zu vermuten, dass das Erdbeben Erdogan sogar politische Vorteile bringen wird», sagt er gegenüber SonntagsBlick.
Die Opposition sei schon immer sehr schwach gewesen, wenn es um Fragen von nationalem Interesse gegangen sei. Reinkowski: «In einer Zeit eines wirklich dramatischen Notstands wird es für sie sehr schwierig sein, in einer von der Regierung kontrollierten Öffentlichkeit die an sich völlig berechtigte Unterscheidung zwischen nationaler Sicherheit und berechtigter Kritik an der Regierung vorzubringen.»
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Hinzu kommt, dass der Opposition zurzeit ein starker Kandidat oder eine starke Kandidatin fehlt. Das Oppositionsbündnis «Allianz der Nation», das sich aus sechs Parteien zusammensetzt, wollte ursprünglich am kommenden Montag bekannt geben, wen es ins Rennen schicken will. Die Ankündigung wurde jetzt verschoben, weil im Bündnis heftige Machtkämpfe herrschen.
Verbot für Oppositionellen
Feststehen dürfte, dass der Kandidat ein Mitglied der grössten Oppositionspartei, der CHP, sein wird. Favorit wäre der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu (52). Reinkowski: «Er geniesst zwar viele Sympathien, hat aber durch das noch hängige Verbotsverfahren einen schweren Nachteil.»
Imamoglu war im Dezember 2022 wegen Beleidigung der Wahlkommission zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und einem Politikverbot verurteilt worden. Für die Opposition ist das klar ein Schachzug Erdogans, um einen gefährlichen Gegner aus dem Weg zu räumen.
Gute Chancen haben auch der CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu, der schon lange auf eine Kandidatur hin arbeitet, und Ankaras Bürgermeister Mansur Yavas (67). Auch eine Frau steht zur Diskussion: Meral Aksener (66) von der rechtslastigen Iyi Parti (Gute Partei).
Weitere Entfernung vom Westen
Maurus Reinkowski geht davon aus, dass Erdogan – auch wenn sich die Vorwürfe gegen ihn bewahrheiten sollten – nicht belangt werden könnte. «Erdogan ist ein grosser Meister der politischen Taktik. Er wird immer Sündenböcke finden», meint der Türkei-Experte. Erdogan würde nur dann vor ein Gericht gestellt werden, wenn er vorher die Macht verloren hätte. «Bis dahin kann es noch dauern.»
Nach einer gewonnenen Wahl werde Erdogan erst recht fest im Sattel sitzen und den Westen seine Macht spüren lassen, meint der Experte. Etwa, wenn es um den Nato-Beitritt Schwedens geht. «Mit dem Ja durch die Türkei wird frühestens für die Zeit nach den Wahlen gerechnet – und selbst das ist nicht sicher.»
Mit einer Annäherung Erdogans an den Westen nach dem Erdbeben werde daher wohl nichts. Schon jetzt stehe die Türkei nur noch mit einem Fuss in der Nato. Reinkowski: «Und das ist nicht nur eine kurzfristige politische Konjunktur.»