Anatoli Tschubais (67) war in Russland ein mächtiger Mann. Während Jahrzehnten hielt er Spitzenpositionen in grossen Staatsunternehmen, letztes Jahr ernannte ihn Wladimir Putin (69) zum Beauftragten für nachhaltige Entwicklung. Es war der Dank des russischen Präsidenten dafür, dass ihn Tschubais, der als Architekt der Privatisierungen in Russland in den 1990er-Jahren gilt, ihm Mitte der 1990er-Jahre seinen ersten Job im Kreml gab. Doch die Freundschaft zerbrach, als Putin in die Ukraine einmarschierte. Tschubais sprach sich gegen Krieg aus, trat als Sondergesandter des Kreml zurück und flüchtete nach Sardinien. Bis heute ist er der ranghöchste Berater, der Putin den Rücken kehrte – wenn auch längst nicht der einzige.
Nun sind Bilder von Tschubais aufgetaucht, die schockieren. Er liegt sichtlich geschwächt im Spital, kann seine Augen nicht mehr schliessen, das Gesicht ist teilweise paralysiert, Arme und Beine funktionieren nicht mehr wie gewünscht.
Sein Zustand ist stabil
Bei Tschubais wurde offiziell die seltene neurologische Erkrankung Guillain-Barré-Syndrom diagnostiziert. Das berichtet die britische Zeitung «The Sun» mit Verweis auf die ehemalige russische Präsidentschaftskandidatin Xenia Sobtschak (40), die den Fall öffentlich machte. Derzeit liege Tschubais auf der Intensivstation, sein Zustand habe sich stabilisiert.
Allerdings haben die italienischen Behörden den Verdacht, dass Tschubais vergiftet wurde und machen entsprechende Abklärungen.
Laut Bericht behauptete ein angeblicher Kreml-Insider auf Telegram, Tschubais stehe auf einer sogenannten «Abschussliste», ohne aber Beweise dafür vorlegen zu können. Darauf würden insgesamt 18 Personen stehen, die Nikolai Patrushew (71) gegenüber feindlich eingestellt seien. Patrushew leitete jahrelang den russischen Inlandggheimdienst (FSB), ist derzeit Sekretär des russischen Sicherheitsrates, gilt als europafeindlicher Hardliner und möglicher Nachfolger Putins als russischer Präsident.
Die Liste möglicher Giftanschläge ist lang
Diese These ist nicht belegbar: Giftanschläge auf russische Überläufer aber sind gut dokumentiert – im Verdacht stets: der russische Geheimdienst.
2004 erkrankte der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko (68), schwer an einer Dioxinvergiftung, nachdem er Reis gegessen hatte.
Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko (†44) starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochradioaktivem Polonium.
Alexander Perepilitschni (†44) starb 2012 beim Joggen in London. In seinem Magen fanden sich Spuren des Gifts Gelsemium. Perepilitschni war ein möglicher Kronzeuge in der Affäre um den Tod eines russischen Anwalts im Jahr 2009.
Nur knapp dem Tod entgangen
Wladimir Kara-Mursa (40) war Berater des 2015 in Moskau erschossenen Oppositionspolitikers Boris Nemzow (†55). Wenige Monate nach Nemzows Ermordung fiel er nach einem Mittagessen in Moskau mit plötzlichem Nierenversagen ins Koma. Ärzte diagnostizierten eine Vergiftung, konnten aber keine verursachende Substanz identifizieren. 2017 wurde er erneut mit Vergiftungserscheinungen in ein Spital eingeliefert.
Der ehemalige Doppelagent Sergej Skripal (71) und seine Tochter Julia (38) wurden im März 2018 im englischen Salisbury mit dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok ausgesetzt. Beide entgingen dem Tod nur knapp.
Im September 2018 wurde Pjotr Wersilow (34), russischer Aktivist der Protestgruppe Pussy Riot, mit möglichen Symptomen einer Vergiftung in ein Moskauer Krankenhaus gebracht.
Kreml-Kritiker Alexej Nawalny (46) fiel am 20. August 2020 auf einem Flug nach Russland plötzlich ins Koma. Deutsche Ärzte stellten später eine Nowitschok-Vergiftung fest. Unterdessen ist Nawalny wieder in der Heimat und sitzt eine jahrelange Gefängnisstrafe ab.
Diverse andere ehemalige enge Verbündete Putins sind in den vergangenen Monaten entweder gestorben, inhaftiert worden oder aus der Öffentlichkeit verschwunden. Versuche, den russischen Geheimdienst dafür verantwortlich zu machen, sind bisher erfolglos geblieben. (vof)