Migration statt Mobilisation. Nach Kasachstan, statt in die Ukraine. Diesen Weg haben seit der Verkündung der Mobilisierung über 200'000 Russen gewählt. Einer von ihnen ist Ruslan Sokolowski (27) aus der Stadt Schadrinsk.
Schon der Beschluss von Kreml-Chef Wladimir Putin (70), die Ukraine zu überfallen, zwang den Blogger zur Flucht. «Ich wollte mich mit Putins Entscheidung nicht abfinden und sein Regime mit meinen Steuern unterstützen. Und ich habe Anti-Kriegs-Videos gepostet und fürchtete mich nach der Einführung der neuen Gesetze vor den Folgen», sagt er zu Blick.
Ein halbes Jahr verbringt er im Ausland. Im September kehrt er für einen Wohnungsverkauf zurück in seine Heimat. Doch prompt wird die Mobilisierung ausgerufen. «Ich und meine Familie gerieten in Panik, dass ich einberufen werden könnte.» Also packt er seine Sachen und flüchtet erneut.
«Eigentlich wollte ich nach Georgien. Aber die Flugpreise, die wegen der hohen Nachfrage noch mehr gestiegen sind, waren zu hoch.» Sogar der rund zweistündige Flug von Tscheljabinsk nach Astana (Kasachstan) hätte umgerechnet 11'270 Franken gekostet. Es muss anders gehen. «Meine Schwiegermutter fuhr mich am 25. September zur kasachischen Grenze.» Nach fünf Stunden Fahrt ist Schluss. An der Grenze staut sich eine Autokolonne von rund 160 Autos. Sokolowski beschliesst, zu Fuss weiterzugehen.
«Viele mussten ihre Arbeit aufgeben und Familien zurücklassen»
Als er nach einer halben Stunde ankommt, muss er warten. Drei Stunden lang. «Es waren 300 Männer im wehrpflichtigen Alter da. Alle wirkten deprimiert, was nicht verwunderlich ist. Wegen der Handlungen ihrer Regierung werden sie gezwungen, eilig zu fliehen.»
In Gesprächen erfährt Sokolowski, dass die wenigsten einen Job haben, der es ihnen ermöglicht, im Homeoffice zu arbeiten. «Viele mussten ihre Arbeit aufgeben und Familien zurücklassen. Nicht genug, dass sie nicht wissen, wann sie ihre Frauen und Kinder wieder sehen, sie müssen auch in der Fremde eine neue Stelle suchen.»
Wenn sie es denn überhaupt ins Land schaffen. Am kasachischen Kontrollpunkt beobachtet Sokolowski, wie manche umkehren müssen. Er selber hat Glück und wird durchgelassen. «Die Grenzwache fragte mich nach meinen Reise-Gründen. Ich sagte, dass ich gegen den Krieg bin und die Aggression meines Landes nicht unterstütze.»
«Was ist, wenn Putin es schafft, mich da herauszuholen?»
Die Massenankunft der Russen macht sich in den Preisen und der Wartezeit bemerkbar. «Ich war schockiert, wie hoch die Mieten waren. Zu Beginn habe ich 200 Franken pro Nacht gezahlt.» Und auch beim Administrativen ist Geduld gefragt. «Die Regierung hat eigens die Räumlichkeiten eines Kulturzentrums zur Verfügung gestellt, um all die Russen zu registrieren», sagt er.
Der Blogger, der aktuell von seinen Ersparnissen lebt, will mindestens zwei Monate im Land bleiben. Grundsätzlich fühle er sich in Sicherheit, manchmal bekommt er es trotzdem mit der Angst zu tun. «Ich bin zwar im Ausland, aber irgendwie zu nah an Russland. Was ist, wenn Putin es schafft, mich da herauszuholen?»
Ausserdem vermisst er seine Familie und Freunde und die gewohnte Umgebung. Das alles habe ihm der Krieg weggenommen. Vor der Invasion hatte er Podcasts für Echo Moskwy aufgezeichnet. Im März wurde der Kreml-kritische Sender gesperrt. «Die Regierung hat einen Krieg angefangen und ein Medium geschlossen, wo ich gearbeitet habe. Herzlichen Dank auch dafür», sagt er ironisch.
Stand mit «Putin ist ein Trottel»-Plakat auf Rotem Platz
Irgendwann möchte er wieder in die Heimat zurück. Jetzt sei das aber zu gefährlich. «Das wäre eine Reise direkt ins Gefängnis», ist er sicher. «Die Repressionen nehmen zu. Alle, die mit Putin nicht einverstanden sind, wandern in den Knast.»
Auch er selbst sass schon hinter Gittern. Weil er in einer Kirche «Pokémon Go» spielte, landete er 2016 für sechs Monate in U-Haft und wurde wegen Verletzung der religiösen Gefühle zu 3,5 Jahren auf Bewährung verurteilt. 2019 stand er mit einem «Putin ist ein Trottel»-Plakat auf dem Roten Platz in Moskau. Dafür kassierte er eine Geldstrafe.
Wieder ins Gefängnis will er nicht. Für Oppositionelle wie Alexej Nawalny (46), die im Knast sitzen, habe er grossen Respekt. «Keiner zweifelt an der Glaubwürdigkeit dieser Menschen. Diese Leute wollen das Beste für ihr Land, so sehr, dass sie bereit sind, im Gefängnis zu sitzen.»
Erst wieder nach Russland, wenn der Krieg vorbei ist
Auch er wolle das Beste für Russland, beteuert er. Doch einem Kampf gegen den Staat räumt er kaum Chancen ein. «Ich schätze meine Möglichkeiten realistisch ein. Die Regierung hat dank Gaseinnahmen viel Geld. Mit diesem Geld wurde in den letzten Jahren der Polizeiapparat mit Waffen ausgerüstet. Ich habe keine Waffe und kann es mit diesen Organen nicht aufnehmen.»
Er glaubt, dass andere Vorgänge für einen Regime-Wechsel nötig seien. «Wenn Putin wegen Sanktionen kein Geld mehr hat, um den Polizeiapparat zu halten, dann wird es die Bevölkerung schaffen, das Regime loszuwerden. Oder die Silowiki, Geheimdienstler und Militärs, lehnen sich gegen Putin auf, weil sie keinen Lohn mehr erhalten.»
Eins ist für ihn klar: «Ich kehre erst wieder nach Russland, wenn der Krieg vorbei ist und es einen Regierungswechsel gibt. Das ist das Wichtigste für mein Land.»