Lange trug Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu (74) den Spitznamen «Mr. Security» mit Stolz. Während seiner Zeit an der Spitze Israels lebte das Land mehrheitlich in Frieden. Doch dann kam der 7. Oktober 2023. Es war der dunkelste Tag für das Judentum seit dem Holocaust: Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Hamas töteten rund 1200 Israelis, über 250 Menschen verschleppten sie als Geiseln in den Gazastreifen. Viele sahen in diesem Massaker auch ein Versagen von Netanyahu
Und doch steht er ein Jahr danach immer noch an Israels Spitze. Umfragen zufolge schaffte es seine Partei Likud sogar wieder, 38 Prozent Zustimmung in der israelischen Bevölkerung zu erlangen. Wie hat Netanyahu die letzten 365 Tage politisch gemeistert?
Netanyahu war politisch zerstört
Der Konflikt zwischen Israel und den umliegenden arabischen Staaten war lange Zeit Dreh- und Angelpunkt von Netanyahus politischer Laufbahn. Geboren 1949, nur ein Jahr nach Gründung des Staates Israels, blickt Netanyahu auf eine beispiellose und hochumstrittene Karriere zurück. Derzeit ist er zum dritten Mal Ministerpräsident Israels. Zig mal wurde er bereits politisch totgesagt.
Auch vor dem 7. Oktober 2023 war Netanyahu so gut wie am Ende. Je länger er an der Macht war, desto mehr Probleme hatte er zu bewältigen. Darunter Korruptionsvorwürfe, die 2019 erhoben wurden. Angesichts dieser Vorwürfe unterstützte er einen Plan zur Einschränkung der Befugnisse des Obersten Gerichtshofs und zur Rückgabe der Macht an die Regierung. Dies löste 2023 landesweit massive Proteste aus. Netanyahus Zustimmungswerte stürzten ab. An einen Rücktritt dachte der in Ungnade gefallene Ministerpräsident aber offensichtlich nie.
Der Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 änderte alles. Innenpolitischer Zwist rückte in den Hintergrund. Auf Netanyahus Befehl hin führten die israelischen Streitkräfte (IDF) Luftangriffe auf den Gazastreifen durch, gefolgt von einer gross angelegten Bodenoffensive. Trotz seiner unmittelbaren und für die Zivilbevölkerung in Gaza verheerenden Reaktion wurde Netanyahu das Image des Versagers nicht los. Hinzu kam die schleppende Rettung der israelischen Geiseln aus dem Gazastreifen. Sie schien für Netanyahu zweitrangig zu sein – an erster Stelle stand die Liquidierung der Feinde Israels.
Rohe Gewalt als Schlüssel zum Erfolg
Ein Jahr später zeigt sich, dass er dieses Ziel mit unbeirrbarer Entschlossenheit verfolgt, auch mit dem Risiko eines Flächenbrands im Nahen Osten: Ende Juli töteten die IDF zuerst den Hamas-Führer Ismail Hanija (†62) im Iran. Am 17. und 18. September detonierten Tausende Pager und Walkie-Talkie-Funkgeräte von Hisbollah-Mitgliedern im ganzen Libanon. Vermutet wird, dass dahinter der Geheimdienst Mossad steckt – offiziell hat sich Israel nie dazu bekannt.
Ende September folgte der Angriff der IDF auf Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah (†64), der in Beirut ums Leben kommt. Am 5. Oktober soll auch dessen designierter Nachfolger Safi al-Din getötet worden sein – hier steht eine offizielle Bestätigung allerdings aus. Die erfolgreichen Angriffe auf ihre Führer und Kämpfer haben die Hisbollah gedemütigt und geschwächt – und den Iran zu direkten Reaktionen bewogen. Das Mullah-Regime ist der wichtigste Unterstützer der Hisbollah im Libanon und der militärisch hochgerüstete Erzeind Israels.
Um den grossen Krieg zwischen den beiden Mächten zu verhindern, bemühen sich Israels Verbündete bislang erfolglos um Deeskalation. US-Präsident Joe Biden (81) hat mehrfach mit Israels Premier telefoniert, europäische Partner taten es ihm gleich – doch Netanyahu lässt sich nicht beirren.
Plötzlich wieder beliebt
Auch wenn die Triumphe der letzten zwei Wochen nicht der vom Ministerpräsidenten versprochene «totale Sieg» sind, so summieren sie sich doch zu einer militärischen und geheimdienstlichen Leistung von vielleicht historischem Ausmass. Netanyahu inszeniert sich dabei als Architekt der militärischen Erfolge. «Ich bin zum Schluss gekommen, dass die IDF nicht genug getan haben. Deshalb habe ich die Direktive gegeben», sagte er etwa zum Tod von Nasrallah.
Und das gibt Netanyahu Auftrieb. In Umfragen ist seine Likud-Partei jetzt erstmals wieder auf Platz eins unter den Parteien. Im November 2026 wird Israel ein neues Parlament wählen. Und Netanyahu gedenkt, wieder anzutreten und Ministerpräsident Israels zu bleiben.