Da steht er nun, König «Bibi», mitten im nahöstlichen Wespennest. Um ihn herum sticht, surrt und beisst es gewaltig. Wer zuerst zugestochen hat, wer angefangen hat? Zuweilen ist nicht mal ganz klar, wer da genau wen sticht. Gestochen jedoch wird. Gestorben auch. Und Benjamin Netanyahu (74), zum sechsten Mal Regierungschef von Israel, steht knietief im blutigen Schlamm, den er mitzuverantworten hat.
Das ist die eine Lesart dieses Kriegs im Nahen Osten: Netanyahu, der Rechtspolitiker der Likud-Partei, habe das Land mit seiner geplanten Justizreform so sehr gespalten, dass die externen Sicherheitsmechanismen versagt hätten und keiner mehr im Blick hatte, was die Hamas da drüben im Gazastreifen Grausiges plante. Es sei seine Schuld, sein Versagen, dass es so weit gekommen sei, mit der Hamas, mit der Hisbollah und vielleicht bald mit dem Iran.
Und dann gibt es noch eine andere Auslegung, vertreten von jenen, die dem einstigen Elite-Soldaten und Wirtschaftsberater mit einem geschätzten IQ von 180 zutrauen, dass selbst Israels aktuelle Megakrise nichts anderes ist als pures Kalkül. Die Deutung geht so:
Benjamin Netanyahu hat das alles kommen sehen. Und er, der Macht-Magier, der die Geschicke der kleinsten Atommacht der Welt – mit Unterbrüchen – seit mehr als 16 Jahren leitet, ist bereit, Nation und Nachbarn für seine eigene Freiheit einen sehr hohen Preis zahlen zu lassen.
Ihm drohen 13 Jahre Haft
1200 Menschen ermordete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober. Rund 400 israelische Soldatinnen und Soldaten kamen bei Vergeltungsschlägen im Gazastreifen seither ums Leben. Wohl mehr als 22'000 Palästinenser wurden getötet – mehrheitlich Frauen und Kinder. Das hat Südafrika diese Woche dazu veranlasst, Israel beim Haager Tribunal wegen Genozids anzuzeigen.
Inmitten all dieses Schreckens ist den Israelis die Lust vergangen, über Netanyahus Justizreform zu streiten, die bis zum 7. Oktober wöchentlich für Massenproteste gesorgt hatte. Netanyahu versuchte mit seinem Kabinett – teils aus rechtsextremen Splitterparteien zusammengesetzt – das Oberste Gericht zu entmachten.
In Israel, das weder eine Verfassung kennt noch eine zweite Parlamentskammer hat, sind die 15 Obersten Richter die einzige Kontrollinstanz, die von der Regierung verabschiedete Gesetze prüfen und ihre Einführung verhindern können. Das wollte Netanyahu beenden. Primär, so sagen es seine Gegner, um Gesetzesanpassungen vornehmen zu können, die die drei gegen ihn laufenden Korruptionsprozesse für nichtig erklärt hätten. Netanyahu drohen im Fall einer Verurteilung 13 Jahre Haft.
Anfang Jahr haben die Obersten Richter die Justizreform abgeschmettert. Eigentlich herrscht jetzt politische Megakrise in Israel: Oberstes Gericht gegen Regierung. Das gabs in der 75-jährigen Geschichte des Judenstaats noch nicht. Doch darüber streiten will niemand, wenn noch immer täglich Sirenen heulen, wenn noch immer Hunderte Geiseln vermisst werden.
Was ihn sein Vater lehrte
Netanyahu kommt das gerade recht. «Von meinem Vater habe ich gelernt, was es wirklich zum Überleben braucht: Man muss Gefahr frühzeitig erkennen und bekämpfen», sagte er kürzlich in einem Podcast. Und die Gefahr, die kam für den Regierungschef mit der tiefen Stimme und dem silbernen Haar nicht primär von der Hamas, sondern von den eigenen Richtern, deren Warnrufe jetzt im Kriegsgeschehen untergehen.
Mit 14 wanderte Netanyahu mit seinen Eltern aus dem heimischen Jerusalem ins US-amerikanische Philadelphia aus. Sein perfektes «American English» stammt aus dieser Zeit. Und seine Liebe für Schach und Fussball. Als junger Mann kehrte er nach Israel zurück und diente fünf Jahre lang in der Eliteeinheit Sayeret Matkal. Bei einer Geiselbefreiungsaktion 1972 wurde er angeschossen. Geblieben ist die Wunde an der Schulter und die Überzeugung, die er gern auf Latein formuliert: «Principiis obsta», wehret den Anfängen.
In die Politik eingestiegen ist der dreifach verheiratete Enkel eines einst aus Belarus eingewanderten Zionisten in den 1980er-Jahren, zuerst als israelischer Uno-Botschafter, dann als Parlamentarier, ab 1996 erstmals als Premierminister.
Netanyahus nervende Freunde
Zu seiner zweiten Heimat, den USA, pflegte er allerengste Kontakte. Fast vier Milliarden US-Dollar Militärhilfe schickt Onkel Sam jährlich an den jüdischen Kleinstaat im Nahen Osten. Unentbehrliche Überlebenshilfe. Ausgerechnet jetzt aber provozieren zwei seiner Mitregenten die USA aufs Gröbste. Itamar Ben-Gvir (47), der Sicherheitsminister, antwortete auf die amerikanische Kritik an seinem Vorschlag, alle Gaza-Bewohner aus dem Küstenstreifen rauszuwerfen, mit dem Satz: «Wir sind kein Stern auf der US-Flagge.» Man lasse sich nichts sagen.
Und der nicht minder radikale Finanzminister Bezalel Smotrich (43) hält partout an seiner Forderung fest, die Steuergelder zurückzuhalten, die Israel für die Palästinensische Autonomiebehörde eintreibt. Der palästinensischen De-facto-Regierung droht der Kollaps. Die USA warnen vor noch mehr Chaos. Smotrich aber bleibt hart und droht seinerseits mit dem Rücktritt. Das brächte Netanyahus Regierungskoalition zu Fall. Und «Bibi» (den Spitznamen hat sich Netanyahu aus seiner Jugendzeit bewahrt) verlöre seine Macht.
Hat der Magier ausgetrickst? Bringen ihn seine radikalen Machtvettern ins Schleudern? Werden die Richter doch noch seine Henker? Hält sein 74-jähriger Körper, seit letztem Juli unterstützt von einem Herzschrittmacher, das alles überhaupt aus?
Netanyahus Umfragewerte sind im freien Fall. Der gemässigte Ex-General Benny Gantz, den der Regierungschef in sein Kriegskabinett geholt hat, würde ihn in einer Wahl aktuell locker schlagen. Netanyahu aber sagt es überdeutlich: «Jetzt ist nicht die Zeit für Politik.» Jetzt ist Krieg. Über alles andere redet man später. Vielleicht.