Das Schlimmste waren die schreienden Menschen, denen man die Gliedmassen fast ohne Betäubungsmittel amputieren musste und deren Verbrennungen man mit nichts als Essig desinfizieren konnte. «Das tut wahnsinnig, wahnsinnig weh», sagt Diyani Dewasurendra (40). Doch etwas anderes blieb den Ärzten in den Krankenhäusern von Gaza nicht.
Binnen 48 Stunden nach Beginn des israelischen Angriffs auf den palästinensischen Küstenstreifen am 7. Oktober hatten sie all ihr medizinisches Notmaterial aufgebraucht oder an die Regierung abgegeben. Medikamente für Krebspatienten, Verbände für Kriegsopfer, Schmerzmittel für Gebärende: Es fehlte an allem. Auch an der Kraft, jene zu trösten, die wie niemand sonst unter dem Krieg litten und die man im Gazastreifen nur noch als WCNSFs kennt.
Die Abkürzung steht für «Wounded Children with No Surviving Family» («verwundete Kinder ohne überlebendes Familienmitglied»). Zurückgelassen im Elend, auf sich gestellt, ohne jemanden. Keinem Menschen sollte das widerfahren. Und doch trifft man im Gazastreifen überall auf solche Kinder.
Wenn Diyani Dewasurendra von diesen Momenten erzählt, kommen ihr auch heute noch die Tränen. Dann schluckt sie leer, entschuldigt sich kurz und spricht wieder gefasst von den 26 Tagen, die sie als Ärztin mitten im Krieg von Gaza verbracht hat.
Brutale Entscheidungen im Spital
Im Sommer zog die Österreicherin nach Gaza-Stadt, um eine Notfallaufnahme aufzubauen. Es war ihr vierter Einsatz für die Organisation Ärzte ohne Grenzen – und ihr mit Abstand schwierigster. Doch wenn die Medizin nicht jenen hilft, die es wirklich nötig haben, fehle ihr die Seele, verfehle sie ihr Ziel.
Und kaum irgendwo brauchen die Menschen die Medizin derzeit so dringend wie im Gazastreifen. Weit über 10'000 Menschen sind dort bei den israelischen Vergeltungsschlägen nach den Hamas-Terrorangriffen getötet worden. Rund 70 Prozent der Opfer sind Frauen und Kinder, sagt die Hamas. Das könne sie nicht verifizieren, sagt Dewasurendra. Statistiken seien eine schwierige Sache, mitten im chaotischen Horror.
«Wir haben in den Gängen operiert, hatten oft keinen Strom, mussten brutale Entscheidungen fällen, wen wir behandeln und wen nicht», erzählt die Ärztin beim Treffen mit SonntagsBlick in Wien. Das Personal sei massiv übermüdet gewesen. «Und wenn ich spätabends todmüde ins Bett sank, getraute ich mich dennoch kaum, einzuschlafen, weil ich nicht um ein Uhr morgens wieder von den Bomben geweckt werden wollte.»
800 Kalorien und 1,5 Liter Wasser pro Tag – bei über 30 Grad
Sechs Tage, bevor die Österreicherin als eine von bislang nur gerade knapp 500 Menschen eine Ausreisebewilligung aus Gaza erhalten hatte, ging ihrem Team das Trinkwasser aus. «Seit Tagen schon hatten wir strikt rationiert: anderthalb Liter Wasser und 800 Kalorien pro Tag und Person, trotz Temperaturen von weit über 30 Grad.»
Als Gaza-Stadt unter immer stärkeren Beschuss geriet, zog ihre Organisation die internationalen Mitarbeitenden aus dem Norden ab. «Wir landeten in einem Gemeindezentrum, zusammen mit 45'000 geflohenen Menschen. Es gab vierzehn Toiletten und drei Duschen.» Dewasurendra hatte nichts, um den leidenden Personen zu helfen. Ohnmacht inmitten des Schmerzes, inmitten des Geschreis.
Über die Terroristen der Hamas, die sich laut den israelischen Streitkräften in Gängen unter den Spitälern im Gazastreifen verstecken sollen, will Diyani Dewasurendra nicht sprechen. Sie darf nicht. Ihre Organisation hat sich das auf die Fahne geschrieben: überall helfen, nirgendwo Partei ergreifen. Fakt ist: Das Al-Shifa-Spital, das grösste Krankenhaus im Gazastreifen, musste in der Nacht auf Samstag wegen des heftigen israelischen Beschusses den Betrieb einstellen. Israel sagt, Hamaskämpfer hätten sich darin versteckt. Die Spitalleitung meint: Unsinn. Beim Angriff kamen offenbar auch 39 Neugeborene ums Leben.
Nur ungern spricht Dewasurendra über den Lärm dieser Angriffe mitten in der Nacht, die Explosionen, die Raketen, die Bomben, die Kampfjets. «Irgendwann lernst du, all diese Geräusche voneinander zu unterscheiden.» Heute noch reagiert sie empfindlich auf Lärm, muss sich in ihrer Heimat am Wörthersee im idyllischen Süden Österreichs mühsam wieder zurechtfinden.
Sie will zurück – aus zwei Gründen
Das Gefühl des Ausgeliefertseins lässt sie nicht mehr los. «In Gaza sind wir mit unserem Team fünfmal umgezogen. Aber vor diesem Krieg kann man sich nicht verstecken.» Wenn sie an die mehr als 300 lokalen Kolleginnen und Kollegen denkt, die noch immer vor Ort festsitzen, schiessen ihr wieder die Tränen in die Augen. Mohammed, der Fahrer, der sein dreijähriges Kind aus den Trümmern seines Hauses ziehen musste. Die Kollegin, die ihre ganze Familie verloren hatte. Das ist der grauenhafte Alltag im Gazastreifen in diesem Herbst.
Diverse humanitäre Organisationen, auch Ärzte ohne Grenzen, fordern eine sofortige Waffenruhe, um die Verletzten und Kranken aus dem Chaos herauszuholen. «Wenn der Krieg so weitergeht, bricht das Gesundheitssystem sehr bald komplett zusammen», sagt Dewasurendra. Die Folge: Keine Hilfe für frühgeborene Babys, Verblutende oder Durchfallopfer, die sich in den überfüllten Auffangzentren rasch ausbreiten.
Sie will gar nicht daran denken. Und doch will sie bald zurück nach Gaza. Um denen zu helfen, die es so dringend nötig haben. Und um ihr Plüschnilpferd «Hank» abzuholen. Das Maskottchen kam bislang auf all ihre Auslandseinsätze mit. In den kleinen Rucksack, den sie bei der Ausreise mitnehmen durfte, passte es nicht. Hank hockt fest in Gaza, zusammen mit fast zweieinhalb Millionen verzweifelter Menschen, gefangen mitten im Krieg.