An windigen Oktobertagen liessen die Bewohner von Kfar Aza jeweils ihre Drachen in den Himmel steigen. Aviv Kutz (†54) hatte die Tradition vor ein paar Jahren gestartet. Mit seinen drei Kindern schickte er die farbigen Papierflieger von seinem Kibbuz aus in Richtung der palästinensischen Nachbarn, als Zeichen der Versöhnung, als Symbol für den Frieden. Der Gazastreifen liegt keine anderthalb Kilometer von hier, gleich hinter dem Sicherheitszaun und dem steinigen Feld.
Doch statt Drachen steigen jetzt Militärdrohnen in den Himmel über Kfar Aza. Im Minutentakt donnern israelische Artilleriegeschosse über den Kibbuz hinweg. Kampfjets drehen beängstigende Runden über uns. Das einst friedliche 700-Seelen-Dorf sieht aus, als wäre ein Terrortornado mitten durch die Strassen gefegt. Zerschossene Autos, ausgebrannte Häuser, geknickte Verkehrsschilder. In der Luft liegt ein verbrannter Geruch – und ein grausiges Gerücht.
Vom brutalen Krieg, der seine Heimat zerstört hat, bekommt Aviv Kutz nichts mehr mit. Die Terrorbanden der Hamas, die am Morgen des 7. Oktobers über das steinige Feld angebraust kamen und den Sicherheitszaun durchbrachen, haben ihn und seine ganze Familie in ihrem Häuschen am Rande des kleinen Kibbuz ermordet. Aviv wurde mit ausgestreckten Armen auf seiner Frau und seinen Kindern gefunden. Wahrscheinlich hatte er versucht, sie zu schützen. Ein letzter mutiger Akt des Mannes, der einst aus dem amerikanischen Boston hierhin in sein heisses und heiss umkämpftes Heimatland zurückkehrte, um ein bisschen Frieden zu stiften.
62 Menschen töteten die islamistischen Kämpfer in Kfar Aza an jenem grauenhaften Morgen, fast jeden zehnten Bewohner. 17 nahmen sie als Geiseln mit. Verschont haben sie niemanden.
Eliteoffizier bestätigt schreckliches Baby-Gerücht
«Nicht einmal die kleinen Kinder», sagt Golan Vach (49), Chef einer israelischen Eliteeinheit, die im zerstörten Kibbuz ihr Quartier bezogen hat. Das Gerücht stimme, sagt der kleine Mann und legt seine massiven Hände wie zum Gebet zusammen. «Ich habe mit meinen eigenen Händen ein geköpftes Baby aus einem der Häuser getragen.» Etwas Schrecklicheres als hier in den überfallenen Kibbuzim entlang des Gazastreifens habe er noch nie gesehen.
Ein graues Kätzchen schleicht entlang des von Zerstörung gesäumten Quartiersträsschens, auf dem Vach steht und mir in seinem Ordner Bilder von geschändeten Frauenkörpern zeigt. Beim nächsten Artillerieschuss zuckt das Kätzchen zusammen und verschwindet in einem verkohlten Haus. Ich folge ihm, finde es nicht mehr. Dafür eine zerfetzte Matratze zwischen schwarzen Wänden, im Bad eine ungespülte Toilette. Wer immer hier gewohnt hat: Er wurde auf die niederste Art und Weise aus dem Leben gerissen.
1400 Menschen haben die Hamas-Terroristen bei ihrem Überfall auf die israelischen Kibbuzim im Süden Israels vor drei Wochen ermordet. 7700 Palästinenser, darunter mehr als 3000 Kinder, sind seither bei israelischen Vergeltungsschlägen auf den Gazastreifen getötet worden, sagt das Gesundheitsministerium der Hamas. Mindestens 229 Menschen, darunter mehrere Kinder, werden in Gaza noch immer als Geiseln gehalten.
Krebs und Kriegsverbrechen
Die Hamas sei wie ein wuchernder Krebs, der Gaza befallen habe, sagt Golan Vach. «Man kann ihn nicht bekämpfen, ohne dabei dem Körper zu schaden. Doch wer langfristig gesund werden will, muss das erdulden.» Zivile Opfer seien unvermeidbar. Israel halte sich an die Regeln, auch im Krieg.
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Organisationen wie Amnesty International sehen das anders. Israel begehe bei seinen ununterbrochenen Angriffen auf den dicht besiedelten Gazastreifen Kriegsverbrechen, sagen sie. Weltweit nehmen die anti-israelischen Proteste zu. Zuletzt rief der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan all seine Landsleute dazu auf, für die Palästinenser auf die Strasse zu gehen.
Für solche geopolitischen Debatten hat Golan Vach keine Zeit. «Mein Job ist es, Menschenleben zu retten.» In Kfar Aza kam er für einmal zu spät.
Die Opfer waren Palästina-Freunde
Es sei paradox, sagt der israelische Eliteoffizier: «Die meisten Menschen hier waren das, was wir in Israel als links bezeichnen würden.» Propalästinensisch eingestellt, gegen den harschen Kurs der israelischen Regierung, voller Empathie für die Menschen in der abgesperrten Küstenzone auf der anderen Seite des steinigen Feldes.
Ofir Libstein, der hiesige Bürgermeister, zum Beispiel. «Er träumte stets von einer gemeinsamen Industriezone mit Arbeitern aus Gaza und den Kibbuzim», sagt Vach. Auch Libstein haben die Terroristen getötet. Und mit ihm den Traum vom gemeinsamen Wirken zwischen Israelis und Palästinensern hier im kargen Land.
In Israel haben viele die Hoffnung, dass auf die Katastrophe vom 7. Oktober vielleicht bald die Erkenntnis folgt, dass es einen Neustart braucht, einen Schlussstrich unter all das Leid, eine frische Vision. Die blutigen Wunden aber, die der Terror aufgerissen hat, sind nur schwer zu heilen. Farbige Drachen werden dafür nicht reichen.