Verhandlungsexperte George Kohlrieser (78) traut der Hamas alles zu
«Nicht alle Gaza-Geiseln werden überleben»

George Kohlrieser (78) hat als Unterhändler mehr als 100 Geiseln befreit. Der amerikanische Psychologe erklärt, warum die Hamas ein extrem schwieriger Verhandlungspartner ist, wie die Schweiz den Entführten in Gaza helfen könnte und wie man eine Geiselhaft überlebt.
Publiziert: 13.10.2023 um 00:07 Uhr
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Aktualisiert: 13.10.2023 um 14:02 Uhr
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150 Menschen hat die Hamas bei ihrem Überfall auf Israel am vergangenen Wochenende in den Gazastreifen entführt.
Foto: keystone-sda.ch
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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Die Hamas hält in Gaza 150 Menschen als Geiseln fest. Haben Sie schon einmal so etwas gesehen?
George Kohlrieser:
Nein, das ist eine neue Dimension, ein totaler Schock. Unter den Geiseln sind viele Kinder und Frauen. Das ist der schlimmste Alptraum für ein Verhandlungsteam. Wenn ich im Fernsehen sehe, wie Eltern um die Freilassung ihrer Kinder betteln, dann treibt das selbst mir die Tränen in die Augen, obwohl ich darauf trainiert bin, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten.

Wird eine der 150 Gaza-Geiseln überleben?
Einige werden entkommen, aber es werden wohl nicht alle überleben. Die Situation in Gaza wird irgendwann eskalieren, wie im Irak-Krieg, wo Geiseln öffentlich hingerichtet worden sind. Als Unterhändler bei Geiselnahmen muss man immer Optimismus verbreiten. Hier fällt mir das zugegebenermassen schwer.

Wann rechnen Sie mit der Eskalation?
Das hängt ganz davon ab, wer hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält. Das wirkliche Problem besteht darin, dass wir noch immer nicht wissen, was die Hamas eigentlich will. In einer normalen Geiselnahme muss man immer als Allererstes herausfinden, was die Entführer wollen.

Die Hamas will mutmasslich ihre eigenen Kämpfer freipressen. 2011 tauschte die Hamas den israelischen Soldaten Gilad Shalit gegen 1027 ihrer eigenen Leute.
Gut möglich, dass das auch jetzt das Ziel ist. Das macht mir ein bisschen Hoffnung. Deswegen ist wohl noch keine der Geiseln hingerichtet worden. Was die Hamas aber sicher auch will: Leute terrorisieren und Rache nehmen.

Die Hamas hat mit der Veröffentlichung von Hinrichtungsvideos gedroht. Will man damit neue Kämpfer rekrutieren?
Solche Videos könnten einige Psychopathen anlocken. Die Videos würden aber für extreme Empörung sorgen und die Hamas in eine schwierige Position bringen.

Glauben Sie, dass die Hamas israelische Geiseln anders behandelt als internationale?
Sie dürften die Ausländer rücksichtsloser behandeln als die Israelis, um weitere Reaktionen aus dem Ausland zu provozieren. Sie haben bereits so viele Israelis getötet, dass es – ich hasse es, das zu sagen – eine gewisse Taubheit gibt gegenüber Nachrichten über weitere tote Israelis.

George Kohlrieser: Ein Leben als Geisel-Befreier

George Kohlrieser (78) hat in seinen 40 Jahren als Verhandlungsexperte mehr als 100 Geiseln befreit. Er betreut aktuell mehrere Klienten, deren Angehörige als Hamas-Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Der amerikanische Psychologe unterrichtet am International Institute for Management Development (IMD), einer Wirtschaftshochschule in Lausanne.

George Kohlrieser (78) hat in seinen 40 Jahren als Verhandlungsexperte mehr als 100 Geiseln befreit. Er betreut aktuell mehrere Klienten, deren Angehörige als Hamas-Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Der amerikanische Psychologe unterrichtet am International Institute for Management Development (IMD), einer Wirtschaftshochschule in Lausanne.

Wie lange wird die Geiselnahme dauern?
Die Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln nach Gaza ist unterbrochen. Der humanitäre Druck ist extrem. Niemand weiss, wie lange Gaza und die Hamas ohne frisches Wasser und Essen auskommen können. Klar ist: Die Menschen in Gaza sind jetzt alle Geiseln der Hamas, auch wenn ihnen niemand eine Waffe an den Kopf hält.

Nehmen wir an, wir wüssten, was die Entführer wollen. Wie verhandelt man mit der Hamas?
Die Grundlage jeder Geiselverhandlung ist es, Zugeständnisse zu machen. Man schaut sich an, was die Gegenseite will, und versucht, einen Schritt auf sie zuzugehen. Für beide Seiten muss das Leben der Geiseln einen hohen Wert haben, sonst brechen sie die Verhandlungen ab. Die grosse Gefahr ist: Hamas scheint das Leben ihrer Geiseln wenig bis nichts wert zu sein.

Also funktioniert die Standardstrategie der Geiselnahme bei der Hamas nicht?
Die Unterhändler sind in diesem Fall Regierungsbeamte, die auf inoffiziellen Kanälen arbeiten. Ihr oberstes Ziel ist es, jemanden zu finden, mit dem beide Seiten zu sprechen bereit sind. Findet man niemanden, droht die Katastrophe.

Die Schweiz hat die Hamas noch immer nicht offiziell zur Terrororganisation erklärt. Wäre unsere Regierung die ideale Vermittlerin?
Die Schweiz ist gut aufgestellt, um als Geisel-Verhandlerin aufzutreten, nicht zuletzt wegen ihrer Neutralität. Wenn die Schweiz die Hamas offiziell zur Terrororganisation erklärt, dürfte es aber schwieriger werden, sich mit ihr an den Tisch zu setzen und zu verhandeln.

Sie wurden selbst viermal als Geisel genommen. Haben Sie Tipps, wie man eine Geiselhaft überlebt?
Vermenschlichen Sie sich selbst. Sogar Hamas-Terroristen haben diesen menschlichen Drang nach sozialer Bindung. Auch sie sind nicht alles harte Psychopathen, die keine menschlichen Gefühle mehr spüren. Stellen Sie den Entführern Fragen: Wie würde Ihre Mutter über das denken, was Sie tun? Wenn die Mutter die Hamas unterstützt, dann hat man natürlich ein doppeltes Problem. Die allermeisten Mütter aber wollen nicht, dass ihre Kinder töten.

Wer überleben will, muss einfach freundlich sein zu den Entführern?
Es gibt zwei Berichte von befreiten israelischen Frauen, die Essen kochten, Tee servierten und ihren Entführern sagten, dass sie Arabisch lernen wollten. Dieses angepasste Verhalten, dieses Zugehen auf die Entführer, das ist das sogenannte Stockholm-Syndrom. Ich bin sicher, dass die Dame, die den Entführern Essen kochte, dies nicht aus tiefstem Herzen tat, sondern aus einem reinen Reflex, überleben zu wollen. In den meisten Fällen ist das Stockholm-Syndrom unmittelbar nach der Befreiung vorbei. Es gibt aber auch Fälle, in denen Geiseln tatsächlich eine Bindung zum Geiselnehmer bilden und auch nach der Befreiung nicht wirklich in der Lage sind, die Freunde von den Feinden zu unterscheiden.

Wie hält man die Hoffnung in einer so hoffnungslosen Situation aufrecht?
Ich würde allen Geiseln in Gaza empfehlen, optimistisch zu bleiben. Fragen Sie sich: Was werde ich tun, wenn ich hier rauskomme? Denken Sie an Menschen, die Sie in Ihrem Leben lieben. Was würden die tun, wenn sie in dieser Situation wären? Das kann unglaublich hilfreich sein. Versuchen Sie, alles über Ihre Umgebung zu lernen. Wenn Sie religiös sind, dann beten Sie.

Sollten sie versuchen, zu fliehen?
Natürlich, wenn sie einen Ausweg sehen, sollten sie ihn nehmen. Man muss das Risiko abschätzen und dann aus einem Impuls heraus in der Lage sein, die Flucht auch tatsächlich zu ergreifen.

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