Die Hoffnung auf einen baldigen Waffenstillstand in Gaza schwindet dahin. Israel droht damit, eine Bodenoffensive in der Stadt Rafah nahe der Grenze zu Ägypten zu starten. Vielen westlichen Alliierten geht das zu weit. Angesichts der fast 30'000 getöteten Palästinensern seit Beginn der Kampagne nach den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober kocht die internationale Wut auf den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu (74) immer stärker hoch.
Unter anderem Grossbritannien und Deutschland haben Netanyahu in den letzten Tagen eindringlich dazu aufgefordert, den Kämpfen ein Ende zu setzen. Erfolglos. Verspielt sich Netanyahu in Rafah das letzte bisschen internationale Rückendeckung, das er noch hat?
Internationale Alliierte ziehen sich zurück
Die Verbissenheit Netanyahus stösst einigen Staatsoberhäuptern sauer auf. Bei US-Präsident Joe Biden (81) ist der Geduldsfaden bereits gerissen. In privaten Gesprächen bezeichnete er den israelischen Ministerpräsidenten unter anderem als «A***loch», wie drei Zeugen gegenüber NBC News sagen. Er wolle ihm «die Hölle heiss machen», sagte Biden.
Am Montag verhängte die britische Regierung Sanktionen gegen vier Siedler, die der Gewalt an Palästinensern beschuldigt werden. Ein niederländisches Gericht beschloss ein Exportverbot für Teile der F-35-Kampfflugzeuge nach Israel. Die Niederlande fürchten, dass sie in Gaza für Kriegsverbrechen eingesetzt werden könnten. Die ägyptische Regierung droht mit einer Aussetzung des Friedensvertrags mit Israel. Erschwerend kommt auch Südafrikas Klage am Internationalen Gerichtshof hinzu, die Israel des Genozids bezichtigt.
Für Netanyahu steht zu viel auf dem Spiel
Doch Netanyahu lässt sich nicht beirren, zu viel steht auf dem Spiel. Steffen Hagemann, ehemaliger Leiter des Israel-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt gegenüber Blick: «Rafah ist die dritte Hochburg der Hamas im Gazastreifen. Dort werden das Führungspersonal wie auch viele Kämpfer der Hamas vermutet.» Und Netanyahu braucht dringend einen Sieg gegen die Hamas: «Er hat einen Sieg gegen die Hamas versprochen und konnte dieses Ziel bislang nicht erreichen. Mit der Ankündigung einer Militäroperation in Rafah möchte er Unterstützung in der Bevölkerung für einen noch lange anhaltenden Krieg gewinnen.»
Denn: «Das Misstrauen gegen Netanyahu ist gross.» Laut «The Guardian» wird Netanyahus politische Karriere gleichzeitig mit dem Krieg in Gaza enden. Die Unterstützung für eine weitere Amtszeit sinkt. Experten bezweifeln, dass die Offensive in Rafah sein politisches Überleben sichern wird.
Niemand glaubt mehr daran, dass Netanyahu seine Ziele erreichen kann, so Hagemann. «Zudem machen die Angehörigen der Geiseln Druck und fordern, dass die Freilassung der Geiseln auch im Rahmen eines Abkommens mit der Hamas Priorität haben müsse.»
Israel schafft es nicht, Geiseln zu retten
Das israelische Militär hat in den mehr als vier Monaten der Kämpfe nur drei Geiseln gerettet – das sind gleich viele wie jene Geiseln, die bei Bemühungen um ihre Befreiung vom israelischen Militär getötet wurden. Die überwiegende Mehrheit der freigelassenen Geiseln wurde in Verhandlungen mit der Hamas freigekauft. Mehr als 100 wurden während eines einwöchigen Waffenstillstands im vergangenen Jahr befreit. Es wurde bestätigt, dass mehr als 30 Geiseln in Gefangenschaft gestorben sind, und man fürchtet um das Leben von mindestens 20 weiteren.
Am Montag feierte Netanyahu die Befreiung zweier israelischer Geiseln aus Rafah als Etappensieg gegen die Hamas. Dass die Befreiungsaktion des israelischen Militärs auch 67 palästinensische Zivilisten in Rafah das Leben kostete, wird von Israels Staatschef nicht beachtet. Das scheint es Netanyahu wert gewesen zu sein.
Beinahe 1,5 Millionen Palästinenser in Lebensgefahr
Der Einsatz von Israels Militär am Montag gibt einen Vorgeschmack darauf, was den Palästinensern in Rafah bei einer Bodenoffensive droht. Denn Netanyahus Truppen sollen die islamistische Terrorgruppe Hamas, die am 7. Oktober ein schreckliches Attentat auf Israel verübt hat, zerschlagen – koste es, was es wolle.
Und kosten würde es einiges, sagt auch Hagemann. Vor allem Menschenleben. Über 1,3 Millionen vertriebene palästinensische Zivilisten fanden in Rafah Zuflucht vor dem Krieg. Zwar hat Ägypten den Grenzübergang in Rafah ihrerseits für Hilfsgüter geöffnet, doch die Palästinenser können nicht nach Ägypten flüchten. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand.