Ehrliche Bilanz vom höchsten Rang
Ukrainischer Armeechef sieht schwarz für sein Militär

Der ukrainische Armeechef gibt einen Einblick in die Situation seiner Truppen. Und er hält fest: Es könnte besser aussehen. Mehr denn je sei die Ukraine auf die Unterstützung ihrer westlichen Partner angewiesen.
Publiziert: 08.09.2022 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2022 um 22:33 Uhr
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Der ukrainische Armeechef Waleryj Saluschnyj gibt eine Einschätzung zur Lage der ukrainischen Truppen.
Foto: Wikipedia
Chiara Schlenz

Der russische Blitzkrieg ist gescheitert – so viel ist schon seit geraumer Zeit bekannt. General Waleryj Saluschnyj (49), der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, prognostiziert gar: Der Krieg wird unter keinen Umständen noch im Jahr 2022 enden. Im Gegenteil: Kommendes Jahr werde man auf eine «neue Phase der Konfrontation» zusteuern, ein Ende sei noch nicht in Sicht.

«Auch hier wird es sich um einen langwierigen Konflikt handeln, der mit menschlichen Verlusten und massiven Kosten verbunden sein wird, ohne dass ein sicheres Endergebnis in Sicht ist», so Saluschnyj. In einem Gastbeitrag für die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform eröffnet Saluschnyj nebst seinen Prognosen für den russischen Vormarsch auch weniger rosige Aussichten für das ukrainische Militär.

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Was sind die Ziele Russlands in diesem Krieg?

Einerseits glaubt Saluschnyi, dass die russischen Truppen mit dem Erreichen der Verwaltungsgrenze des Donbass ihr Endziel erreichen werden. Andererseits sei zu erkennen: «Ein Vorrücken Richtung Saporischschja scheint für den Feind noch attraktiver zu sein.» So könne man ein weiteres Vorrücken nach Norden ermöglichen – und somit die Einnahme der Städte Saporischschja und Dnipro. Das ukrainische Militär würde so die Kontrolle über einen grossen Teil der Südukraine verlieren.

Neben den rein militärischen Vorteilen könnte ein solches strategisches Vorgehen im Osten und Süden der Ukraine Russland zusätzliche politische und wirtschaftliche Vorteile bringen, so Saluschnyi. Dazu gehören die Gewährleistung der Sicherheit der selbsternannten «Republiken» Luhansk und Donezk und der «logische, wenn auch verzögerte Abschluss» der sogenannten «Sonderoperation», die Unterbrechung des Zugangs der Ukraine zum Schwarzen Meer und die Erlangung der Kontrolle über das Schlüsselelement des Energiesystems des Landes, das AKW Saporischschja.

Und nicht nur das: In den kommenden Monaten könnte Russland gar erneut Angriffe auf Kiew planen. Zudem könnte auch Belarus in den Krieg eingreifen. Kurzum: Es sieht schlecht aus für die Ukraine.

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Wie steht es um die Ukraine und ihr Militär?

Die Front weise eine «äusserst ungünstige Konfiguration» in die Richtung von Izyum und Bakhmut auf, offenbart der Armeechef. Die Anstrengungen des russischen Militärs mache es der Ukraine beinahe unmöglich zu handeln. «Sie erfordern im Wesentlichen eine Verdoppelung der Kräfte», so Saluschnyj. «Die Lage im Süden und Osten sieht nicht besser aus.»

Er sieht nur einen Weg, die Ukraine aus diesem Schlamassel zu ziehen: «Die einzige Möglichkeit, die strategische Lage radikal zu ändern, besteht zweifellos darin, dass die ukrainische Armee im Lauf des Jahres 2023 mehrere aufeinander folgende und im Idealfall gleichzeitige Gegenangriffe startet.»

Die Vorbereitung einer Offensivkampagne erfordere allerdings, dass die Ukraine eine oder mehrere operative Truppengruppierungen aufstellt, die aus zehn bis 20 kombinierten Armeebrigaden bestehen. «In der gegenwärtigen Situation könnte das ausschliesslich dadurch geschehen, dass die wichtigsten Bewaffnungstypen, die den bereits bestehenden Brigaden zur Verfügung stehen, durch moderne, von den ukrainischen Partnern bereitgestellte Typen ersetzt werden.»

Unabhängig davon sollte die Notwendigkeit hervorgehoben werden, mehr Raketen und Munition, Artilleriesysteme und Raketenwerfer zu beschaffen, betont der Armeechef. «All das wird gemeinsame Anstrengungen aller Partnerländer erfordern und einen beträchtlichen Teil der Zeit und der finanziellen Ressourcen in Anspruch nehmen.» Sieht also nicht so aus, als könne die Ukraine das Blatt schnell wenden.

Während die Situation bei der Zahl der Streitkräfte der Ukraine recht vielversprechend aussehen dürfte, gilt das nicht für schwere Waffen und Munition, erklärt Saluschnyj. «Aber wenn der politische Wille, eine rechtzeitige und durchdachte Planung sowie die Nutzung der industriellen Basis und der Reserven der führenden Mächte der Welt vorhanden sind, wird die Aufgabe, solche Verbände aufzustellen und angemessen auszurüsten, in jedem Fall als absolut realistisch angesehen.»

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Was braucht die Ukraine von ihren Partnern?

Klar ist aber: Russland ist der Ukraine militärisch überlegen. Dessen ist sich auch Armeechef Saluschnyj bewusst. «Natürlich ist es unmöglich, dem Feind einen so bedeutenden Vorteil sofort zu entziehen. Angesichts des Umfangs der Ressourcen, über die die russische Armee verfügt, ist die Möglichkeit, sie vollständig auszuschalten, zu zweifelhaft.» Gleichzeitig sei es aber durchaus möglich, Russland mit ähnlichen Fähigkeiten zu begegnen.

Dafür müssten aber die westlichen Partner der Ukraine die entsprechenden Waffensysteme und Munition mit entsprechender Reichweite liefern, so der Armeechef. Dabei ginge es vor allem um bestimmte Modelle wie Atacms-Raketen der USA für die bereits gelieferten Himars. «Wenn es der Ukraine gelingt, die entsprechenden Waffen zu erhalten, werden die operativen und strategischen Perspektiven für 2023 völlig anders aussehen.»

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Krim hat Schlüsselrolle im Krieg

Eine grosse Rolle im Ukraine-Krieg spielt nach wie vor die 2014 von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim. Denn durch sie, so Saluschnyj, sei der Nachschub für russische Truppen garantiert. Schliesslich befinde sich auf der Krim der wichtigste Marinestützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und ein Netz aus Flugplätzen, von denen aus beinahe die gesamte Ukraine angegriffen werden könnte.

Trotz aller Schwierigkeiten kann die Ukraine auch Erfolge verbuchen, besonders im Zusammenhang mit der Krim. Nach knapp einem Monat hat sich Kiew zu Angriffen auf mehrere Luftwaffenstützpunkte auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim bekannt. «Es geht um eine Serie von erfolgreichen Raketenschlägen auf die Luftwaffenbasen auf der Krim, vor allem um den Flugplatz Saki», so der Armeechef.

Welche Raketen zum Einsatz kamen, teilte Saluschnyj nicht mit. Ziel der Angriffe sei es, den Russen auch in entfernteren Gebieten zu verdeutlichen, dass es einen realen Krieg mit Verlusten und Niederlagen gebe. Saluschnyj geht nicht von einem Kriegsende im laufenden Jahr aus.

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