Im Kampf gegen die Ukraine musste das russische Militär herbe Verluste einstecken – nicht nur materielle, sondern auch personelle. Wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf US-Geheimdienste berichtet, versuche Russland sogar Verwundete und verurteilte Kriminelle zu rekrutieren.
Westliche Beamte und die Kiewer Regierung gehen von Tausenden von Verlusten aus. Offiziell hat Russland allerdings seit den ersten Wochen des Krieges keine Verluste bekannt gegeben. Im Gegenteil: Nach aussen versucht man, das Bild eines starken Militärs aufrechtzuerhalten.
Eines so starken Militärs, dass sogar die seit längerem angekündigte Militärübung Wostok 2022 im Osten des Landes stattfindet. Auch wenn man an der Ukraine-Front im Westen unter massivem Personalmangel leidet – um seine Verbündeten China, Syrien und Indien zu beeindrucken, zieht Kremlchef Wladimir Putin (69) gerne einige Männer vom Fronteinsatz ab. Oder hat das russische Militär gar keine Personalprobleme?
Absage von Manöver käme Gesichtsverlust gleich
Marcel Berni (34), Strategieexperte von der Militärakademie an der ETH Zürich, erklärt Blick: «Das Militärmanöver wurde bereits vor dem Ukraine-Krieg geplant – massgeblich in Kooperation mit anderen Streitkräften, darunter etwa China, Syrien oder Indien. Dabei handelt es sich um Länder, die Russland mittelfristig in seinen Gunstkreis ziehen muss.»
Die «offenkundigen militärischen Probleme» in der Ukraine sollten eben nicht zu einer Absage dieses Manövers und einer Schwächung der Beziehung zu China und weiteren potenziellen Partnern führen. «Eine Absage von Wostok 2022 durch Russland käme einem Gesichtsverlust gleich», so Berni.
Zudem sende Putin mit dem Manöver ein klares Zeichen gegen den Westen: «Russland signalisiert mit dem im Vergleich zu früheren Manövern substanziell kleinerem Einsatz von rund 50'000 Soldaten, dass es noch immer starke und verlässliche militärische Verbündete hat und trotz des Krieges in der Ukraine grosse Übungen im Verbund abhalten kann.»
«Es macht zurzeit wenig Sinn, eine weitere Front zu eröffnen»
Auch wenn westliche Beobachter eher kritisch gegenüber Russlands positiver Bilanz sind – einige warnende Zeigefinger sind doch zu sehen. Russland hat das Potenzial, einen «zweiten Kriegsschauplatz» zu eröffnen, warnte beispielsweise Eberhard Zorn (62), General des Heeres der deutschen Bundeswehr – auch wenn ein Grossteil der Bodentruppen bereits in der Ukraine gebunden seien. Man solle die militärische Stärke Moskaus nicht unterschätzen: Russland sei sehr wohl dazu in der Lage, den Konflikt auszuweiten.
«Es macht zurzeit wenig Sinn, eine weitere Front zu eröffnen», beschwichtigt Berni. «Dafür müsste Putin schlicht mehr Soldaten rekrutieren und ausbilden. Eine solche Aushebungs- und Ausbildungsoffensive geht nicht über Nacht und würde in der russischen Gesellschaft Spuren hinterlassen.»
Generell sehe man besonders bei den Bodenkräften des russischen Heers einen personellen Engpass, meint Berni. Das erkläre auch, weshalb Russland noch immer auf Distanzwaffen setzt und bei Infanterievorstössen nur begrenzte Erfolge verzeichnen kann. Im Vergleich mit der Ukraine: «Die Russen in der Ukraine haben viel schweres Gerät, aber wenig Soldaten. Die Ukrainer haben dagegen viel Personal und wenig schwere Waffen.»