Die ukrainische Armee hat im Süden des Landes eine Gegenoffensive gestartet. Für Präsident Wolodimir Selenski (44) ist klar: «Wir werden die Krim zurückerobern.»
Bisher ist allerdings nicht ganz klar, wie gross der Vormarsch der Streitkräfte «Süd» ist. Der ukrainische Generalstab berichtete über Explosionen in der vom russischen Militär besetzten Grossstadt Cherson sowie von der Zerstörung des Stützpunkts einer Spezialeinheit moskautreuer Truppen.
In der Region im Süden des Landes versuchen die Ukrainer, die Russen hinter den Fluss Dnjepr zurückzutreiben. Derweil habe die russische Armee versucht, in der Region Donbass voranzukommen, meldete der Generalstab weiter. Alle Angriffe seien aber abgewehrt worden.
ETH-Strategieexperte Marcel Berni (34) sagt gegenüber Blick: «Die ukrainischen Streitkräfte sind in den vergangenen Tagen entlang mehrerer Achsen im Westen der Oblast Cherson vorgerückt. Dabei haben sie begrenzte Gebietsgewinne gemacht, besonders dort, wo die russischen Streitkräfte ausgedünnt waren.» Mit Erfolg hätten die Ukrainer in den vergangenen Wochen die russische Logistik, den Nachschub und die Befehls- und Kommandostrukturen angegriffen.
Es fehlt an Panzern und Raketen
Für die eigentliche Gegenoffensive sei nun das Zusammenspiel zwischen mechanisierter Infanterie, Artillerie und taktischer Luftunterstützung auf breiter Front entscheidend. «Nur so können Gebiete eingenommen sowie russische Truppen erschöpft und voneinander abgeschnitten werden.»
Allerdings fehle es den Ukrainern zurzeit vor allem an gepanzerten Transportfahrzeugen und Panzern. «Auch hätte Kiew wohl gerne noch mehr Himars-Raketen-Artillerie, samt der dafür nötigen teuren Präzisionsmunition», sagt Berni. Himars ist ein mobiles Mehrfachraketenwerfer-System, mit dem die Ukrainer in den vergangenen Tagen mehrere präzise Angriffe ausführen konnten.
Für Berni hat die Ukraine «überraschend lange mit der Offensive» zugewartet – wohl um eigene Truppen besser auszubilden und Munitionsreserven anzuhäufen. Berni: «In dieser Zeit hat sie mittels Nadelstichoperationen das Gefechtsfeld für die eigene Offensive vorbereitet.»
Der ETH-Stratege rechnet nicht mit einer kurzen Entscheidungsschlacht, sondern mit einem langfristigen Angriffsplan Kiews. «Die bisher grösste ukrainische Offensive in diesem Krieg dürfte noch Wochen dauern», sagt Berni.
Experte: Ukraine holt Land zurück
Bei der Gegenoffensive wird das erste Ziel der Ukrainer die Einnahme Chersons sein, bevor es da zu einem Referendum kommt. Die Russen hatten angekündigt, die Bevölkerung am 11. September über die Frage abstimmen zu lassen, ob sich das Gebiet Russland anschliessen wolle.
Aber nur schon die Ankündigung der Offensive und die ersten Angriffe zeigen Wirkung. Die Vorbereitungen für das Referendum wurden aus Sicherheitsgründen unterbrochen. Der Chef der prorussischen Behörden, Kirill Stremousow, sagte am Montag: «Angesichts der aktuellen Entwicklung glaube ich, dass wir im Moment eine Pause einlegen werden.»
Die Strategen an der ETH räumen den Ukrainern bei der Gegenoffensive grosse Chancen ein. So sagte Militärexperte Mauro Mantovani (58) vor kurzem im Blick: «Kurzfristig ist die Rückeroberung der Oblast Cherson realistisch, langfristig aber auch die Wiederherstellung der Ukraine in den Grenzen von 2013.»