Hunderttausende zeigen ihren Unwillen gegen Erdogan
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Grossdemo in Istanbul:Hunderttausende protestieren gegen Erdogan

Druck auf Erdogan wächst
Die Welt lässt die jungen Türken im Stich

Hunderttausende protestieren gegen den autoritären Herrscher. Es wäre die Gelegenheit für einen Neuanfang. Doch die oppositionellen Jugendlichen sind auf sich allein gestellt. Türkei-Experte Christoph Ramm erklärt, ob es eine Hoffnung auf Wechsel gibt.
Publiziert: 29.03.2025 um 17:31 Uhr
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Aktualisiert: 29.03.2025 um 22:23 Uhr
Die Polizei in Istanbul schlägt die Proteste mit Gewalt nieder.
Foto: keystone-sda.ch
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Guido FelderAusland-Redaktor

Die türkische Jugend hat die Nase voll von Erdogan – und erhebt sich gegen den autoritären Machthaber. Allein am Samstag gingen in Istanbul und anderen Städten Hunderttausende auf die Strassen, um gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan (71) zu protestieren. Er hatte am 19. März den populären Istanbuler Bürgermeister und Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu (53) unter einer fadenscheinigen Begründung verhaften und danach aus dem Amt entfernen lassen.

Die Demonstranten haben nur ein Ziel: Erdogan zu stürzen. Doch den vorwiegend jungen Oppositionellen hilft niemand. Weder der mächtigste Mann der Welt noch der reichste. Im Gegenteil. Haben die Menschen in der Türkei, die genug von Erdogan haben, trotzdem eine Chance, ihren Präsidenten vom Thron zu stossen? 

Es sind die heftigsten Ausschreitungen seit den mehrwöchigen Protesten im Gezi-Park 2013. Auslöser war damals die geplante Abholzung von Bäumen, die einem Einkaufszentrum und dem Nachbau einer historischen osmanischen Kaserne weichen sollten. 

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Selfie in der Protestmenge: Der deutsche Journalist Hazar Deniz Eker.
Foto: zVg

Mit der Rettung des Parks erreichten die Proteste damals zwar ihr Ziel. Die Folge aber war, dass Erdogan immer autoritärer wurde. Seit dem Putschversuch von 2016 hat er seine Macht noch weiter ausgebaut und kontrolliert seither alle Sicherheitsorgane und den Justizapparat. Viele bezeichnen ihn als Diktator. 

Brutales Vorgehen der Polizei

Auch bei den aktuellen Demonstrationen kennt die Polizei kein Pardon: Sie geht mit Tränengas und Gummischrot gegen die Protestierenden vor. Bis Samstag waren rund 1900 Personen festgenommen, aber nur zum Teil wieder freigelassen worden. Es gab Verletzte auf beiden Seiten. Menschenrechtsorganisationen sprechen von «ungerechtfertigter und unrechtmässiger Polizeigewalt».

Der freischaffende deutsche Journalist Hazar Deniz Eker (25) ist an vorderster Front dabei. Seine Eindrücke: «Wohin man auch blickt, sieht man Flaggen verschiedenster oppositioneller Parteien. Von kommunistischen Gruppierungen, Liberalen, Republikanern bis hin zu Nationalisten. Von Kindern über Studenten bis zu Senioren.» Er spricht aber auch von chaotischen Szenen und Tränengas, das konstant in der Luft hänge. «Immer wieder werden die Protestgesänge durch Hilfeschreie von verletzten Demonstrierenden unterbrochen», sagt Eker. Der Präsident von Imamoglus Partei CHP, Özgür Özel (50), dirigiere dann von der Bühne die Massen, damit sie einen Korridor zur nächsten Ambulanz bilden. 

Unter Vorwand verhaftet

Erdogan wirft Imamoglu Korruption und Terrorismus vor. Für die Demonstranten ist klar: Das ist nur ein Vorwand, um ihn ausser Gefecht zu setzen. Der CHP-Kandidat Imamoglu hatte Erdogans AKP 2019 den Posten des Oberbürgermeisters von Istanbul entrissen, der grössten Stadt des Landes. Imamoglu könnte Erdogan in drei Jahren auch als Spitzenkandidat bei den Präsidentschaftswahlen gefährlich werden.

Christoph Ramm, Türkei-Experte an der Universität Bern, sagt im Gespräch mit Blick: «Ermittlungen wegen angeblichen Terrorismus sind das Standardprogramm der türkischen Sicherheitsorgane, um gegen Oppositionelle vorzugehen.» Das gelte auch für die Korruptionsvorwürfe. «Gegen türkische Kommunalpolitiker der Regierungspartei AKP wie den ehemaligen Bürgermeister Ankaras gibt es seit Jahren Korruptionsvorwürfe. Dennoch sind diese Personen weiter auf freiem Fuss.»

Wie sich die Proteste weiter entwickeln, ist nicht absehbar. Doch Erdogan sieht offenbar selbst, dass sein Thron wackelt. Ramm: «Das Ausmass der Repression könnte ein Hinweis darauf sein, wie sehr die Regierung befürchtet, die Proteste könnten ausser Kontrolle geraten und ihre Herrschaft bedrohen.»

US-Regierung unterstützt Erdogan

Ein Sturz Erdogans scheint dennoch nicht absehbar. Denn die Opposition ist auf sich allein gestellt. «Von der neuen US-Regierung ist keine ernsthafte Kritik an der Verfolgung der türkischen Opposition zu erwarten», meint Ramm. Trump betrachte Erdogan offensichtlich vor allem als Verbündeten, mit dem man erfolgreich aussenpolitische Deals machen könne. Ramm weiter: «Trump hat erst diese Woche, als die Proteste schon liefen, Erdogan als ‹good leader› gepriesen.»

Kommt dazu, dass die Plattform X, die Trumps Berater Elon Musk (53) gehört, mehrere Konten türkischer Oppositioneller gesperrt hat. Yusuf Can, Analyst beim Nahost-Programm des Wilson Centers in Washington D.C., erklärte gegenüber der einflussreichen US-Zeitung «Politico»: «Es sind Konten von Aktivisten, die mit Universitäten in Verbindung standen und im Wesentlichen Informationen zu Protesten und Orten für Studierende teilten.»

Auch aus Europa dürfen die Oppositionellen nicht mit Hilfe rechnen. Die Europäische Union hat seit dem Scheitern der Beitrittsgespräche schon lange keinen Einfluss mehr auf den türkischen Präsidenten und ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Der erneute Anlauf für einen Beitritt der Türkei zur EU sei unter Erdogan unrealistisch, meint Ramm. 

Imamoglu kritisierte am Freitag selbst die mangelnde Anteilnahme anderer Nationen am Schicksal seiner Heimat. In einem in der «New York Times» veröffentlichten Gastbeitrag schreibt er: «Aber die Regierungen in aller Welt? Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.»

Junge in der Sackgasse

Erdogan hat Günstlinge aus seiner Partei AKP an den wichtigsten Schaltstellen des Landes platziert und nimmt damit auch auf die Wirtschaft Einfluss. Doch seinem System gelingt es nicht mehr, für wirtschaftlichen Wohlstand zu sorgen und die Inflation in den Griff zu bekommen, die im Februar 39 Prozent betrug: «Das rechtsautoritär-nationalistische Politikmodell, das Erdogan mit Staatsführern wie Trump, Putin, Orban und anderen teilt, lähmt die Entwicklung des Landes», meint Ramm. 

Viele Junge – ob sie an den Protesten beteiligt sind oder nicht – sehen sich in Erdogans Türkei ohnehin in einer Sackgasse. Viele haben nur ein Ziel: auswandern. Ramm: «Erdogan mag sein System möglicherweise mit eskalierender Gewalt an der Macht halten, die Perspektivlosigkeit gerade der Jungen wird er damit nur noch verstärken.»

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