Im Strassencafé gegenüber dem Anleger zu den Borromäischen Inseln wird am Dienstagmorgen über nichts anderes gesprochen. Seit dem tragischen Gondelabsturz vom Pfingstsonntag sind es gerade mal 48 Stunden her. Jeder fragt sich: Wie konnte das Unglück passieren?
Lorenzo N.* (56) nippt an seinem Espresso. Der Direktor der Seilbahn ist sichtlich angespannt. Er habe nicht mehr geschlafen seit dem Unglück, sagt er in die Runde. Und er trauere so sehr um die Toten, als wären es seine eigenen Angehörigen. Eine Szene, die einem Journalisten von «La Repubblica» nicht entgeht.
Was niemand am Tresen ahnt: Es ist nicht nur Mitleid, das den Italiener aus Stresas Nachbarort Baveno an diesem Morgen quält. Es ist auch eine schwere Schuld. Am 24. April 2021, nach vielen Monaten Lockdown, wird der Seilbahnbetrieb von Stresa zum 1500 Meter hohen Mottarone wieder in Betrieb genommen. Eine der beiden Gondeln aber läuft nicht rund. Das Bremssystem blockiert immer wieder, sorgt für Pannen und Verspätungen – zuletzt offenbar am Tag vor der Katastrophe.
Eine schnelle Wartung bringt nichts. Es braucht eine gründliche Reparatur. Doch die kostet Zeit – und Geld. Und die Saison beginnt. Lorenzo N., sein Ingenieur und der technische Leiter der Seilbahn treffen eine folgenschwere Entscheidung: Sie setzen kurzerhand das automatische Bremssystem mit einer Sperre ausser Kraft. Eine rote Eisengabel wird zwischen die Bremsblöcke gesteckt, so dass diese sich nicht mehr um das Tragseil schliessen können. Fortan fährt die Gondel wieder. Doch bremsen kann sie nicht mehr. Egal, das Seil wird schon halten, so die Hoffnung der Betreiber. Das Grauen nimmt seinen Lauf.
Gondel raste mit über 100 km/h ungebremst ins Verderben
Es ist ein sonniger, warmer Pfingstsonntag. 15 Menschen wollen das Panorama über dem Lago Maggiore von oben geniessen. Sie steigen in die problematische Gondel. Kurz vor der Bergstation reisst das Zugseil. Die Bremsen greifen nicht, wegen der Sperre. Die Kabine rast mit über 100 km/h talwärts zurück. Dabei schwingt sie stark auf und ab. Wie bei einem Trampolinsprung wird sie am ersten Mast vom Tragseil in die Höhe katapultiert, stürzt dann senkrecht 54 Meter in die Tiefe. Sie zerschellt in der Waldschneise und rollt den steilen Hang hinunter, bis zwei Bäume sie endlich auffangen (Blick berichtete).
Die Staatsanwaltschaft in Verbania nimmt die Ermittlungen auf. Sie sichtet Fotos, das Material der Videoüberwachung und zehn Aktenordner aus dem Büro des Seilbahnunternehmens. Schnell fällt die rote Eisengabel am Wrack auf. Noch in der Nacht auf Mittwoch werden Lorenzo N. und seine beiden engen Mitarbeiter verhaftet. Gegen vier Uhr morgens gestehen sie: «Wir haben die Notbremse absichtlich ausser Gefecht gesetzt.»
Zugseil war möglicherweise von innen her verrostet
Doch die ausgeschaltete Bremse ist nur eine der beiden Unfallursachen. Die Tragödie geschah vor allem, weil das Zugseil riss. Die Vermutung der Ermittler: Materialverschleiss. Die Seile sind 23 Jahre alt. Sie bestehen aus drei Strängen, die ineinander verflochten und selber aus vielen Eisenfasern zusammengesetzt sind. Möglicherweise drang Feuchtigkeit ins Seil und die Stränge begannen von innen nach aussen durchzurosten.
Staatsanwältin Olimpia Bossi vergleicht das Gondeldrama mit dem Einsturz der Morandi-Brücke vom 14. August 2018, bei dem 43 Menschen starben. Auch bei der Autobahnbrücke sorgte vor allem Rostfrass an den Stahltrossen für den Kollaps des 250 Meter langen Teilstücks.
So wie bei den Verantwortlichen der Morandi-Brücke wird auch im Gondelunglück von Stresa wegen schuldhaft verursachter Katastrophe, mehrfacher fahrlässiger Tötung und schwerer Körperverletzung ermittelt. Allein dafür, dass die Seilbahnbetreiber das Sicherheitssystem manipulierten, drohen nach Artikel 437 des italienischen Gesetzbuches zehn Jahre Knast.
* Name geändert