«Hauptziel muss sein, einen massiven Krieg zu verhindern»
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Experte über Krisen-Eskalation:«Hauptziel muss sein, einen massiven Krieg zu verhindern»

Fragen und Antworten zur Ukraine-Krise
Wie gross ist die Gefahr eines Weltkriegs?

Mit der Anerkennung der beiden Separatisten-Republiken in der Ostukraine hat Putin den Grundstein zur Invasion gelegt. Welche Gefahr droht uns nun? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
Publiziert: 22.02.2022 um 17:51 Uhr
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Aktualisiert: 23.02.2022 um 11:24 Uhr
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Zusammen mit der belarussischen Armee führten die Russen an der ukrainischen Grenze Manöver durch.
Foto: imago images/SNA
Guido Felder

Der russische Präsident Wladimir Putin (69) hat die Welt schockiert, als er am Montagabend die Anerkennung der beiden prorussischen Separatisten-Republiken Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine bekannt gegeben hat. Er bricht damit internationales Völkerrecht, das diese Gebiete der Ukraine zuschreibt. Eine Invasion ist höchstwahrscheinlich.

Was bedeutet die Anerkennung dieser Gebiete, wie gefährlich ist der Konflikt für die Welt, und wie wird es weitergehen? Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zum schwersten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Warum kommt die Anerkennung einen Tag nach Ende der Olympischen Spiele?

Putin wollte seinem Kollegen, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping (68), auf der Weltbühne nicht die Show stehlen und nicht die prestigeträchtigen Olympischen Spiele vermiesen. Der russische Präsident mag aber auch Zahlen: Die Entsendung der Truppen begann am 22.2.22. Und es war der 8.8.08, als der russisch-georgische Fünf-Tage-Krieg anfing, der zu einer Stationierung russischer Truppen in grossen Teilen des Landes führte.

Welche Staaten stehen hinter Putin?

Praktisch die ganze Welt verurteilt Putins Vorgehen scharf, sogar die Türkei. Hinter Putins Vorgehen dürfte sich nur noch Belarus stellen.

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Wie reagiert China?

China hat alle Beteiligten zur Zurückhaltung aufgerufen. «Wir glauben, dass alle Länder internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Uno-Charta lösen sollten», sagte Uno-Botschafter Zhang Jun (61). Aussenminister Wang Yi (68) hatte am Wochenende gesagt: «Die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Integrität jedes Landes sollte respektiert und geschützt werden.» Die Ukraine sei keine Ausnahme.

Wie ist Putins Rede einzuschätzen?

Ausser dem Entscheid zur Anerkennung sagte er in der langen und wirren Rede nichts Neues. Hatte er sie schon im Voraus aufgezeichnet? Auf Twitter ist in der angeblichen Live-Sendung die Armbanduhr von Verteidigungsminister Sergei Schoigu (66) zu sehen. Sie zeigte 12.47 Uhr an – fünf Stunden vor dem Sendetermin. Damit hätte Putin der Anerkennung schon zugestimmt, bevor die Separatisten die Anfrage gestellt hatten.

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Was bringt Putin die Anerkennung der Separatisten-Republiken?

Politisch bringt sie ihm nichts, weil er schon Einfluss hatte. Mit der Anerkennung hat er aber einen Grund geschaffen, in die Ukraine einzumarschieren.

Hat die ukrainische Armee überhaupt eine Chance?

Militärisch könnte Russland die Ukraine innert zwei Tagen besiegen, rechnen westliche Geheimdienste. «Das Problem wäre jedoch, das Land zu besetzen und es auch zu halten», sagt ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (31).

Kommt es zu einem Flüchtlingsdrama?

Sehr gut möglich. Vertreter der US-Regierung rechnen mit bis zu fünf Millionen Flüchtlingen, andere Berechnungen gehen von bis zu acht Millionen aus. Die meisten würden ins Nachbarland Polen ausweichen, wo Notunterkünfte bereit gemacht werden und wohin schon nach der Krim-Annexion viele Ukrainer geflohen sind. Die Ukraine zählt 44 Millionen Einwohner.

Welche Sanktionen wird es geben?

Der Westen hat «harte Sanktionen» angekündigt. Am Dienstag hat der deutsche Kanzler Olaf Scholz (63) die Zertifizierung der Gaspipeline Nord Stream 2, in der russisches Gas nach Europa fliessen soll, gestoppt. Zudem dürfte es Massnahmen wie Lieferstopp von Hightech und Technologien, den Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem Swift, Einreisesperren und das Einfrieren von Konten einflussreicher Russen geben.

Wie weit ist der Bau der Nord Stream 2?

Eigentlich hätte die 1234 Kilometer lange Pipeline zwischen dem russischen Ostseehafen Wyborg und dem norddeutschen Ort Lubmin im vergangenen Jahr in Betrieb genommen werden sollen. Wegen drohender US-Sanktionen wurde der Bau vorübergehend unterbrochen. Es fehlt nur noch ein kleines Teilstück in Deutschland.

Wieso gibt es den Konflikt überhaupt?

Die Ukraine war bis 1991 Teil der Sowjetunion, ehe sie unabhängig wurde und völkerrechtlich als eigenständiger Staat anerkannt wurde. Im Laufe der Jahre richtete sich das Land immer mehr westlich aus. Es strebt Mitgliedschaften in der EU und der Nato an. Ein westliches Bündnis direkt an seiner Grenze ist für Putin ein No-Go. Er hat schon 2014 die Halbinsel Krim annektiert.

Wie reagiert die Schweiz?

Das EDA hat auf Twitter mit deutlichen Worte reagiert. Es spricht von einer «eklatanten Verletzung des Völkerrechts, der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine und der Minsker Abkommen». Die Schweiz fordert Russland auf, sich an die internationalen Verpflichtungen zu halten und die Aktion rückgängig zu machen.

Welche Auswirkungen hat der Konflikt auf die Schweiz?

Er dürfte sich in erste Linie auf den Gaspreis auswirken. Thomas Hegglin (37), Mediensprecher des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie: «Wir rechnen mit einem Anstieg der Preise.» Weil man vermehrt Flüssiggas von andern Anbietern importierten wolle, sei die Versorgung aber jederzeit gewährleistet.

Stehen alle Russen hinter Putin?

Überhaupt nicht. Unter anderem haben führende Kulturschaffende, die traditionell grosses moralisches Gewicht haben, gegen einen Angriff protestiert. Sie verurteilen die Kriegspläne als «Wahnsinn» und «kriminell» und bezeichnen jene, die den Krieg provozieren, als «blutrünstige Verbrecher».

Findet das Aussenministertreffen in Genf noch statt?

Angesichts der jüngsten Eskalation durch Moskau im Ukraine-Konflikt hat US-Aussenminister Antony Blinken ein geplantes Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow abgesagt. Mit Blick auf das Vorgehen Moskaus habe es keinen Sinn, an dem ursprünglich für diesen Donnerstag in Genf angesetzten Gespräch festzuhalten, sagte Blinken nach einem Treffen mit dem ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba in Washington.

Er habe Lawrow schriftlich über diese Entscheidung informiert, sagte Blinken weiter. Er habe sich auch mit internationalen Partnern dazu beraten. Blinken betonte, er habe dem Treffen mit Lawrow unter der Bedingung zugestimmt, dass Russland nicht in die Ukraine einmarschiere. Auch ein Treffen zwischen den beiden Staatsoberhäuptern Joe Biden und Wladimir Putin steht laut Bidens Sprecherin Jen Psaki am Dienstagabend (Ortszeit) ausser Frage.

Hat Putin in gewissen Punkten auch recht?

Alles, was Putin jetzt gemacht hat, ist völkerrechtswidrig. Aber, so meint Zogg, viele seiner Vorwürfe enthielten einen Kern Wahrheit. Zogg: «Europa hat es in den 1990er-Jahren versäumt, Russland genügend einzubinden. Man fühlte sich als Sieger und hat das Land zu wenig beachtet.»

Wie gehts weiter?

«Russland wird in die besetzten Gebiete einmarschieren und mit den präsenten prorussischen Truppen zusammenspannen», meint Benno Zogg. Gemeinsam könnten sie zuerst das restliche Gebiet der Oblaste Luhansk und Donezk sowie vielleicht weitere Teile im Osten einnehmen. Die Ukrainer könnten dann auf Konfrontation gehen oder sich zurückziehen, «ohne dass ein Schuss» falle. Zogg: «Ein Extremszenario wäre, dass im Westen eine Rumpf-Ukraine mit einer von Putin eingesetzten prorussischen Regierung übrig bleibt.»

Kommts zu einem Weltkrieg?

In den vergangenen Tagen hat Russland auch Manöver mit Nuklearwaffen durchgeführt. «Das ist höchst beunruhigend», sagt Zogg. Dennoch glaube er nicht an einen Atomkrieg, solange der Konflikt regional bleibe. Gefährlich werde es dann, wenn es etwa mit Nato-Truppen zu einem Missverständnis komme und zwischen diesen Fronten ein Krieg entfache.

Was ist mit den Minsker Friedensabkommen?

Nach dem Entscheid Putins sind die Abkommen, die für Donezk und Luhansk einen Sonderstatus innerhalb der Ukraine vorsahen, sozusagen einseitig gekündigt worden. «Die Abkommen sind tot», sagt Zogg.

Wie lange wird uns der Konflikt beschäftigen?

Zuerst hoffte man, dass sich der Konflikt innert ein paar Monaten lösen würde. «Es wird aber Jahre gehen», sagt Benno Zogg. Er verweist auf Georgien, wo russische Truppen seit 13 Jahren stationiert sind, und auf Moldawien, wo die Russen schon seit 30 Jahren die Finger im Spiel hätten. Zogg: «Solange Putin regiert, ist ein stabiler Frieden praktisch ausgeschlossen.»

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