Um den Zustrom von Migranten besser in den Griff zu bekommen, will die EU die Asylverfahren verschärfen. Das haben die Innenminister am Donnerstag mehrheitlich beschlossen. Verschärfen heisst: Migranten ohne Aussicht auf Asyl werden festgehalten und zurückgeschickt, sowie Länder, die keine Migranten aufnehmen, zur Kasse gebeten. Ein Scheitern könnte das Ende des Schengen-Raums, also der offenen Grenzen innerhalb Europas, bedeuten. Blick erklärt die neue Regelung.
Warum gibt es eine neue Regelung?
Spätestens seit der Flüchtlingskrise und der unkontrollierten Immigration 2015/2016 ist klar, dass es neue Regeln braucht. Vor allem Griechenland war mit dem Massenzustrom überfordert. Hunderttausende Personen konnten unregistriert in weitere Staaten weiterziehen. Laut geltendem Dublin-Abkommen müssen Asylbewerber in jenem Land registriert werden, das sie zuerst betreten.
Was sieht die schärfere Regelung vor?
Personen aus als sicher geltenden Ländern sowie Ländern mit einer Anerkennungsquote unter 20 Prozent werden künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.
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Werden auch Familien eingesperrt?
Die deutsche Regierung hatte sich dafür eingesetzt, dass Familien mit Kindern von den sogenannten Grenzverfahren ausgenommen werden. Um den Durchbruch zu ermöglichen, musste sie allerdings letztlich akzeptieren, dass dies doch möglich sein könnte. Sie will sich allerdings mit Portugal, Irland und Luxemburg weiter für Ausnahmen einsetzen. Denkbar ist auch, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt.
Was ändert sich bei der Verteilung?
Neben den verschärften Asylverfahren sehen die Pläne mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den EU-Aussengrenzen vor. Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. In Medien kursierte die Summe von 22'000 Euro pro verweigerter Aufnahme.
Was passiert mit Abgewiesenen?
Nach Angaben der zuständigen schwedischen Kommissarin Ylva Johansson (59) könnten abgelehnte Asylbewerber künftig grundsätzlich auch in Nicht-EU-Länder abgeschoben werden – zum Beispiel gegen eine Entschädigung an jenes Land. Einzige Voraussetzung soll sein, dass sie eine Verbindung zu diesem Land haben. Wie diese aussehen muss, soll im Ermessen der EU-Mitgliedstaaten liegen, die für das jeweilige Asylverfahren zuständig sind.
Wer stimmte gegen die Reform?
Nicht unterstützt wurde die Reform von Polen, Ungarn, Malta, der Slowakei und Bulgarien. Tschechien machte nach der Einigung deutlich, dass es sich nicht an dem Solidaritätsmechanismus beteiligen will. Der polnische Europaminister Szymon Szynkowski vel Sek (40) twitterte mit Hinweis auf die Aufnahme von 1,6 Millionen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine: «Wir werden nicht akzeptieren, dass uns absurde Ideen aufgezwungen werden.»
Betrifft die Regelung auch die Schweiz?
SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (59) hat am Donnerstag gesagt, dass sich die Schweiz ebenfalls der Regelung anschliessen wolle. Sie bezeichnete die Lösung als einen «historischen Schritt». Dank des Kompromisses sei das Dublin-System gestärkt worden.
Wie viele Migranten reisen nach Europa?
Die Zahl der Asylanträge stieg nach Corona deutlich an. 2022 wurden in den 27 EU-Staaten 881’200 Erstanträge gestellt. Das ist ein Plus von 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Nicht einmal jedem zweiten Antrag wird stattgegeben. In der Schweiz wurden 2022 insgesamt 24'511 Gesuche gestellt.
Woher stammen aktuell die Migranten?
Zurzeit ist vor allem Italien betroffen. Laut dem UN-Flüchtlingskommissariat wurden da dieses Jahr schon über 50’000 Migranten registriert. Die meisten kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch.
Was ist mit Flüchtlingen aus der Ukraine?
Ukrainer geniessen in der EU wegen der Sonderregelung einen besonderen Schutz, ohne dass sie Asyl beantragen müssen. Für sie hat die Regelung derzeit keine Bedeutung.
Ab wann gilt die neue Regelung?
Die noch ausstehenden Verhandlungen mit dem EU-Parlament sollen im Idealfall noch vor Ende des Jahres abgeschlossen werden. Dann könnten die Gesetze noch vor der Europawahl im Juni 2024 beschlossen werden. Sollte dies nicht gelingen, könnten veränderte politische Kräfteverhältnisse Neuverhandlungen nötig machen.
Was sagen die Kritiker?
Massive Kritik kam von Europaparlamentariern der Grünen. «Die EU-Mitgliedsstaaten haben ihren moralischen Kompass verloren», monierte der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Rasmus Andresen (37). Die Grünen sind allerdings gespalten: Ihr Vizekanzler Robert Habeck (53) und ihre Aussenministerin Annalena Baerbock (42) stimmten der Regelung wegen der Notwendigkeit auf Einigung zu.
Was sagen Migrationsexperten?
Der «Rat für Migration», in dem sich rund 190 deutsche Forschende zusammengeschlossen haben, sagen: «Besser keine Reform als diese.» Sie kritisieren, dass die Massnahmen nicht menschenrechtskonform umgesetzt werden könnten. Sie befürchten, dass nun Flüchtlingsgefängnisse an Europas Grenzen gebaut würden und die Aussenstaaten Migranten weiterhin in nördliche Staaten durchwinken könnten.