Hitze, Katastrophen, Arbeit – Schweizer Forscher erklärt die aktuelle Völkerwanderung
Das sind die Brennpunkte der weltweiten Migration

Migration ist eines der wichtigsten Themen, welche die Welt in Zukunft beschäftigen werden. Wo fliehen Menschen – und wovor? Migrations-Experte Rainer Münz beleuchtet für Blick fünf aktuelle Entwicklungen.
Publiziert: 17.05.2023 um 11:53 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2023 um 13:41 Uhr
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2020 kam es an der türkisch-griechischen Grenze zu einer Eskalation.
Foto: AFP
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Guido FelderAusland-Redaktor

Der Basler Rainer Münz (68) kennt sich in der Migration weltweit aus wie kaum ein anderer. Mehrere Jahre arbeitete er in Brüssel als migrationspolitischer Berater. Vor zwei Jahren beauftragte ihn die schwedische Regierung mit der Erarbeitung einer Studie zum Thema «Migration und Klimawandel», die er vergangene Woche vor dem EU-Migrationsnetzwerk in Stockholm vorgestellt hat.

Wie gross ist diese Klima-Migration? Wie viele Flüchtlinge werden nach Europa strömen? Wie viel Migration braucht die Schweiz? Münz erklärt gegenüber Blick die Entwicklungen der weltweiten Migration, die auch die Schweiz betreffen.

Ehemaliger EU-Berater

Der aus Riehen BS stammende Rainer Münz arbeitete sechs Jahre bei der EU-Kommission als migrationspolitischer Berater, davon fünf Jahre für den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (68). Zuvor leitete er die Forschung und Entwicklung bei der Erste Group in Wien. Zudem arbeitete er als Senior Fellow bei der Denkfabrik Bruegel, dem Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut und dem Migration Policy Institute in Washington D.C. Er lebt nach sechs Jahren Brüssel seit 2021 in Wien.

Der aus Riehen BS stammende Rainer Münz arbeitete sechs Jahre bei der EU-Kommission als migrationspolitischer Berater, davon fünf Jahre für den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker (68). Zuvor leitete er die Forschung und Entwicklung bei der Erste Group in Wien. Zudem arbeitete er als Senior Fellow bei der Denkfabrik Bruegel, dem Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut und dem Migration Policy Institute in Washington D.C. Er lebt nach sechs Jahren Brüssel seit 2021 in Wien.

Seine Bilanz: Wanderungen, die durch Wetter und Klima ausgelöst werden, sind teils nicht so gross oder nicht so dauerhaft wie oft behauptet. Münz: «In den letzten zehn Jahren waren es vor allem Gewalt und politische Krisen, die grosse Flüchtlingswellen auslösten: der Bürgerkrieg in Syrien, massive Verarmung in Venezuela, der russische Angriff auf die Ukraine. Die grosse Klima-Migration in andere Länder ist bisher ausgeblieben.»

Flucht vor der Hitze

Die Welthungerhilfe prophezeit bis 2050 über 140 Millionen Klimaflüchtlinge. Münz relativiert: «Auch in Zukunft werden sich bei weitem nicht alle Betroffenen in Bewegung setzen. Und jene, die wandern, werden vor allem im eigenen Land den Wohnort wechseln.»

Beobachtungen zeigten, dass in den vergangenen 30 Jahren über zwei Milliarden Menschen aus ländlichen Gebieten in Städte gezogen sind. «Wir wissen allerdings nicht, wie vielen von ihnen anhaltende Trockenheit, Bodenerosion oder zunehmende Hitze die Lebensgrundlage entzogen hat», sagt Münz. Land-Stadt-Wanderungen finden meistens innerhalb der Landesgrenzen statt.

Der Klimawandel führt aber nicht zwingend zu Migration. Es gebe auch andere Anpassungsstrategien. «In den Niederlanden lebt ein Drittel der Bevölkerung unter dem Meeresspiegel. Sie haben einen wirksamen Schutz gegen Sturmfluten organisiert.»

Münz zählt als Beispiele auch Dubai und die israelische Wüste Negev auf, wo Menschen mit zunehmender Hitze und grosser Trockenheit umgehen müssen. Im Negev wird eine extrem wassersparende Landwirtschaft betrieben. Zugleich entsalzen Israel und die Golfstaaten in grossem Umfang Meerwasser.

Von Katastrophen vertrieben

In der Zeit zwischen 2008 und 2021, auf die sich seine Studie bezieht, mussten zwar 342 Millionen Menschen wegen Naturkatastrophen ihren Wohnort verlassen. Davon konnten aber bis auf sechs Millionen alle wieder nach Hause oder zumindest in ihre Heimatregion zurückkehren. Münz: «Im Gegensatz zu Kriegen führen Naturkatastrophen nur selten zu dauerhaften Vertreibungen oder zur Auswanderung in andere Länder.»

Und noch eine gute Nachricht: Die Naturkatastrophen haben zwar in den vergangenen 120 Jahren deutlich zugenommen. Doch trotz viermal so grosser Weltbevölkerung ist die Anzahl der Todesopfer wegen besserer Vorwarnung, stabilerer Häuser und rechtzeitiger Evakuierung heute viel kleiner.

Problemzone Türkei

Die Türkei beherbergt mit rund vier Millionen Migranten bei 85 Millionen Einwohnern weltweit eine der grössten Flüchtlingspopulationen. Nach den Wahlen könnte es zu einem Flüchtlingsstrom Richtung Europa kommen. Münz: «Der aussichtsreiche Anwärter auf das Präsidentenamt, Kemal Kilicdaroglu, hat im Wahlkampf versprochen, innerhalb zweier Jahre die Anzahl der syrischen Flüchtlinge zu halbieren.» Aber auch der bislang amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan (69) äusserte Pläne, einen Teil der syrischen Flüchtlinge im von der Türkei kontrollierten Norden Syriens anzusiedeln.

Beide Pläne könnten eine Fluchtbewegung Richtung Europa auslösen. «Wir wissen nicht, wie viel von solchen Aussagen Drohkulisse ist», meint Münz. Vor allem Kilicdaroglu habe Interesse an einem besseren Verhältnis mit dem Westen. Und möglicherweise würde die Türkei mit einer erneuten milliardenschweren EU-Zahlung die Grenzen weiterhin dicht halten.

Via Heirat nach Europa

Vielfach wird übersehen, dass Heirat und Familienzusammenführung in jüngerer Zeit die häufigste Form der Zuwanderung nach Europa sind. Das spielt eine grössere Rolle als die Arbeitsmigration. «Etliche in der Schweiz, Frankreich oder Belgien lebende Diaspora-Angehörige heiraten eine Partnerin bzw. einen Partner aus jener Region, aus der die Eltern oder Grosseltern ursprünglich kamen.»

Gerade Migration aus Algerien, Marokko und Tunesien in die EU findet häufig nach einer Eheschliessung mit einem bereits in Europa lebenden Partner statt.

Migration für unsere AHV

Seit 2013 gibt es in Europa mehr Sterbefälle als Geburten. Es droht auf Dauer ein Mangel an Arbeitskräften. Münz: «Wir müssen uns entscheiden, wie wir das Problem lösen wollen: im Alter länger arbeiten, die AHV-Abgaben und Beiträge zur Pensionskasse erhöhen, bei den Alterspensionen bremsen, Dienstleistungen automatisieren – oder mehr Zuwanderung zulassen.»

Laut Münz kommt auch die Schweiz mittel- und langfristig nicht ohne weitere Zuwanderung aus. «Entweder bilden wir die Zuwanderer bei uns besser aus, oder wir suchen im Ausland gezielt nach jenen Fachkräften, die wir brauchen.»

Wie viel Zuwanderung kann die Schweiz verkraften? Münz: «Es ist eine Frage des Tempos von Zuwanderung und Integration. Dabei sind mitgebrachte Qualifikationen ganz entscheidend. Aber auch für ausreichenden Wohnraum muss gesorgt werden.»


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