Die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo nehmen immer weiter zu. Am Sonntag kam es zu einem weiteren Schusswechsel, nachdem kosovarischen Streitkräfte versucht hätten, eine von Serben errichtete Barrikade abzubauen. Geht das nächste Pulverfass in Osteuropa hoch?
Was ist der Ursprung des Konflikts?
Der deutsche Balkan-Experte Konrad Clewing vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung bringt es auf den Punkt: «Serbien bestreitet die Existenz des Staates Kosovo.» Der Kosovo hat im Jahr 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, wird aber von Belgrad bis heute als abtrünniges Gebiet betrachtet. Belgrad bestärkt die serbische Minderheit im Norden des Kosovo bei ihren Versuchen, sich der Autorität Pristinas zu widersetzen.
Hintergrund der neuesten Spannungen waren Pläne der Regierung in Pristina, für den 18. Dezember Kommunalwahlen in den mehrheitlich serbischen Gebieten anzusetzen. Die wichtigste Serben-Partei kündigte umgehend ihren Boykott an, und als die Wahlbehörden mit den Vorbereitungen beginnen wollten, kam es zu Schiessereien und Explosionen.
Was sagen die Regierungschefs?
Die Premiers der beiden Konfliktparteien schiessen – wenn auch nur verbal – scharf gegen die jeweils andere Seite.
Der kosovarische Premierminister Kurti wählte klare Worte: «Der Präsident und der Premierminister Serbiens haben mit einer militärischen Aggression gedroht und die serbische Armee aufgefordert, in unser Gebiet zurückzukehren. Wir suchen nicht den Konflikt, sondern den Dialog und den Frieden. Aber lassen Sie mich deutlich sagen: Die Republik Kosovo wird sich verteidigen – mit aller Kraft und Entschlossenheit.»
Wie reagieren die Schweiz und die EU?
Bislang setzt man, ähnlich wie die EU, vor allem auf Worte. Die Schweiz sei besorgt über die zunehmenden Spannungen und die Errichtung von Barrikaden, teilte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) per Twitter mit. Die beiden Parteien wurden aufgefordert, unverzüglich Massnahmen zu ergreifen, die zur Deeskalation der Situation führen können.
Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell verurteilte die Angriffe scharf. Alle Seiten müssten jede «Eskalation» vermeiden und für Ruhe sorgen, erklärte Borrell auf Twitter. Die Kosovo-Serben forderte er auf, die Blockaden «sofort» zu entfernen.
«Der Westen tritt Serbien nicht entschieden genug entgegen» kritisiert Osteuropa-Experte Clewing. Das läge daran, dass einige europäische Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo ebenfalls nicht anerkennen würden. Zu den europäischen Ländern, die den Kosovo bislang nicht anerkannt haben, zählen Rumänien, Griechenland, Zypern, die Slowakei und Spanien.
Wie wahrscheinlich ist eine weitere Eskalation bis hin zu einem Krieg?
«Einen Einmarsch halte ich für unwahrscheinlich», erklärt Clewing. «Denn dann müsste sich Serbien mit der Nato-geführten Kfor anlegen.» Als Kfor bezeichnet man die nach Ende des Kosovokrieges aufgestellte multinationale Friedenstruppe, die von der Nato geleitet wird.
Stattdessen wird Serbien den Konflikt laut Clewing vor allem auf Geheimdienstebene weiterführen. In den Spannungen der letzten Tage sieht er allenfalls eine Drohgebärde Serbiens.
Was bedeutet die Eskalation für die im Kosovo stationierten Schweizer Soldaten?
In der Kosovo Force (Kfor) Swisscoy stehen im Moment 195 Schweizer und Schweizerinnen im Einsatz.
Auf Anfrage von Blick heisst es aus dem Kompetenzzentrum Swissint in Stans NW, dass die Spannungen zwischen dem Kosovo und Serbien im Moment keine Änderung für die Schweizer Soldatinnen und Soldaten vor Ort bedeuten.
Welche Rolle spielt die russische Invasion in der Ukraine?
Der Kreml sorgt regelmässig für Zündstoff auf dem Balkan. «Putin versucht, die Stabilisierung der Region seit Jahren zu torpedieren», erklärte Daniel Bochsler (43), Politikprofessor an der Central European University (CEU) in Wien und an der Universität Belgrad, bereits im Frühjahr gegenüber Blick. Gezielt unterstütze Putin Nationalisten, beispielsweise Milorad Dodik (63) in Bosnien und Herzegowina. In Serbien nutzt der Kreml die Sowohl-als-auch-Politik der Regierung zwischen EU und Russland geschickt aus.
Im August twitterte der nationalistische Politiker Wladimir Dukanovic von der Regierungspartei SNS, Serbien sei gezwungen, den Balkan zu «entnazifizieren». Ein Narrativ, welches man auch in der russischen Kriegspropaganda zum Angriffskrieg in der Ukraine wiederfindet. Später ruderte Dukanovic zurück und behauptete, er habe bloss einen «Witz» gemacht.
«Russland wird Belgrad weiter helfen, seine legitimen nationalen Interessen mit Blick auf das Kosovo durchzusetzen», machte die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa (46) deutlich.
Den starken Zusammenhalt Serbiens und Russlands dokumentierte zuletzt auch die Ernennung des pro-russischen Nationalisten Aleksander Vulin (50) zum Geheimdienstchef Anfang Dezember. Die russische Botschaft in Belgrad unterstütze die serbischen Forderungen, «seien sie noch so radikal», erklärt Konrad Clewing.
Es handele sich dabei aber lediglich um politische Unterstützung, so der Osteuropa-Forscher. Unterstützung in Form von militärischen Mitteln werde Serbien von Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erhalten.
Das neu gewonnene Selbstbewusstsein der serbischstämmigen Bevölkerung im Nord-Kosovo und die moralische Unterstützung Russlands dürften trotzdem wenig an der Ausgangslage ändern. Eine offene Konfrontation mit der Kfor – und damit der Nato – wird Serbien mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht riskieren, so der Experte.
Wie liesse sich der Konflikt wieder entschärfen?
Serbien könnte teils offen, teils versteckt im Nord-Kosovo die Unabhängigkeit des Nachbarlandes weiter untergraben. Umgekehrt wird es für den Kosovo schwer bleiben, seine Institutionen gegen den Willen der serbischstämmigen Bevölkerung aufzubauen. Beides würde die Lage nur weiter anheizen.
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Konrad Clewing befürwortet daher eine europäische Lösung. «Eulex-Polizei und Kfor müssen in Absprache mit der Regierung in Pristina weitgehend Verantwortung in der Konfliktregion übernehmen.»