Er läuft durch zerbombte Strassen, hält öffentliche Reden und reist ins Ausland. Und dennoch konnten bisher alle Attentatsversuche gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (45) verhindert werden. Es sind mindestens zwölf seit Kriegsbeginn.
Diese Woche gaben die ukrainischen Behörden bekannt, dass eine Frau verhaftet worden sei. Sie soll für russische Geheimdienste relevante Informationen über den Besuch Selenskis in der südukrainischen Region Mykolajiw nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms am 6. Juni gesammelt haben. Die Russen hatten offenbar einen «schweren Luftangriff auf die Region» geplant.
Ein anderes Beispiel vom Sommer 2022: Bei einer Routine-Kontrolle in Kiew verhaftete die Polizei einen Autofahrer. Seine Papiere waren in Ordnung, aber seine Nervosität verriet ihn. Auf seinem Handy fanden die Ermittler Fotos von Militäranlagen und dem Transport von Kriegsgerät.
Der Verhaftete gehört zu über tausend Menschen in der Ukraine, die für russische Nachrichtendienste arbeiten. Laut dem Innenministerium spionieren sie nicht nur die Ukraine aus, sondern planen auch Anschläge. Auch die Söldnertruppen von Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow (46) sowie die Wagner-Truppen versuchten es immer wieder mit Anschlägen auf Selenski, heisst es.
Amerikaner warnten Selenski
Schon vor der Invasion der Russen war Selenski mindestens zwei Anschlägen entgangen. Aber wohl nur, weil CIA-Direktor William J. Burns (67) extra nach Kiew gereist war, um dem damals naiven Selenski «einen Realitätscheck zu verpassen» und ihn über die Gefahr aufzuklären. Das jedenfalls steht im Buch «The Fight of His Life: Inside Joe Biden’s White House» von Chris Whipple.
Nach Ausbruch des Krieges wurden die Sicherheitsvorkehrungen massiv erhöht. Für Selenski gibt es einen schwer gesicherten Bunker unter seinem Büro. Wer ihn besuchen will, muss mehrere Strassensperren passieren. Taschen werden geröntgt, Geschenke auf Strahlung untersucht.
Kein Interesse an Tötung
Wie schafft es Selenski, seinen Feinden immer wieder zu entkommen? Glen Grant (70), ehemaliger Oberstleutnant der britischen Armee, Verteidigungsanalyst beim Ukrainischen Institut für die Zukunft und ehemaliger Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums, macht dazu eine erstaunliche Aussage: Die Russen hätten gar kein wirkliches Interesse daran, Selenski zu eliminieren! «Beim Besuch in Cherson haben ihn die Russen nicht angegriffen, obwohl er in Reichweite ihrer Artillerie war und es ein Leichtes gewesen wäre, in seine Nähe zu kommen», sagt er zu Blick.
Selenskis grosse Entourage von Leibwächtern sei vor allem Show und wenig effektiv. Grant: «Ein Anschlag erfolgt selten aus nächster Nähe, sondern aus Distanz durch einen Scharfschützen, eine Panzerabwehrrakete, eine Drohne oder Rakete.»
Entgegen der Berichte der ukrainischen Sicherheitsdienste habe er selber noch nie etwas von einem wirklichen Angriff auf Selenski gehört. «Es gibt weder Beweise noch ernsthafte Gerichtsverfahren», sagt Grant.
«Weicher» Selenski
Der Grund, warum der Kreml Selenski schonen sollte, sieht Grant im relativ «weichen» Umgang mit Moskau. Grant: «Jeder andere Präsident ginge härter vor und wäre weniger bereit, Friedensgespräche zu akzeptieren.»
Dennoch könne man natürlich einen Anschlag nie ausschliessen. Laut Grant sind es vor allem ukrainische Quellen, die vor Anschlägen warnen. «Es gibt immer noch viele Ukrainer mit Familie und Freunden in Russland.» Ähnliches sagte schon Oleksi Danilow (60), Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine: Anschläge hätten dank Informationen aus dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB vereitelt werden können. Innerhalb des Geheimdiensts gebe es eine Gruppe, die gegen den Krieg in der Ukraine sei, sagte er in einem Fernseh-Interview.
Zudem war der Vater von Andrij Jermak (51), dem Chef des ukrainischen Präsidialamts, früher beim sowjetischen Geheimdienst KGB angestellt. Grant: «Viele Ukrainer sagen, dass es keinen Anschlag geben werde, solange Jermak für Selenski arbeitet.»